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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0153
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Studien zur Spätscholastik. I.

153

Vermögen (im Gegensatz zur thomistischen Psychologie) nur als
die verschiedenen Seiten einer und derselben Sache erscheinen,
wird in der denkbar schroffsten Weise formuliert1; häufig spricht
Marsilius von der „Seele, insofern sie Wille ist“ u. ä. statt von
„Willen“, um ja keinen Zweifel an seiner Absicht zu lassen. Jeder
Erkenntnisakt ist mit Wollungen verknüpft und umgekehrt. Da-
mit wird sogleich die große scholastische Debatte über den Primat
des Willens oder des Verstandes und über das Verhältnis der
„Freiheit“ zu den beiden Seelenvermögen aus der metaphysischen
Sphäre auf den Boden der psychologischen Untersuchung herunter-
geholt2. Sodann aber wird das gesamte Problem durch eine sorg-
fältige Scheidung der bewußten Willensakte von den niederen
Stufen der Begehrung und durch deren eindringende Untersuchung
aufgehellt. Im Anschluß an Buridan wendet hier Marsilius dieselbe
genetische Betrachtungsweise an, die uns von der Erkenntnislehre
her vertraut ist.
Keinesfalls ist die Seele (Sinnlichkeit und Verstand) allein als
Sitz der Begehrungen zu betrachten; die sündige Konkupiszenz
geht vielmehr aus dem gesamten, beseelten Organismus hervor3.
Die aristotelische Naturbetrachtung wird hier mit Glück aus-
gesponnen. Es gibt im Menschen einen dreifachen appetitus: Natur-
trieb (appetitus naturalis), sinnliches und intellektives Begehren
(appetitus sensitivus bezw. intellectivas), letztere beiden als seelisches
Vermögen (animalis) zusamm-engefaßt. Den ersten teilt er mit der
gesamten belebten und unbelebten Natur; er ist durchaus unbe-
wußt. Außer dem metaphysischen Streben aller Dinge nach der
eigenen Vollkommenheit und nach der causa finalis, nach Gott,
ferner außer der Tendenz aller Körper nach ihrem „natürlichen
Ort“ kommt das Streben der Organismen nach Erhaltung der
Art in Betracht; es äußert sich auch bei den Tieren durchaus
unbewußt4: sie ahnen nicht, weshalb sie Nester bauen, sie kennen
nicht den tieferen Sinn ihres Gattungstriebes usw. Dabei wird die
1 lib. sent. II, qu. 22, art. 2, pars 1, Bl. 329ff. Voluntas et intellectus
sunt in eodem komme penitus idem . . . Omnis actus intellectus est actus volun-
tatis et econtra. Ebendort deutliche Polemik gegen die thomi.stische Psychologie.
2 ibid. concl. responsalis Bl. 329, c: Non plus dependet libertas hominis
ex parte intellectus, quam voluntatis, nec econtrario.
3 lib. II, qu. 19, art. 3, not. 3, Bl. 308, a; auch von Siebeck a. a. O.
zitiert.
4 Als appetitus naturalis, nicht animalis; qu. 22, art. 1, Bl. 326 —27.
Zitate z. T. bei Siebeck, 1. c. 208.
 
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