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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0155
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Studien zur Spätscholastik. I.

155

Sünde stärker ist als die Scheu vor ihr1! Ich kann das Gute voll-
kommen einwandfrei erkennen und doch das Böse mit vollem
Wissen tun. Marsilius fühlt wohl das ethisch Gefährliche des
Satzes. Noch Buridan wagte ihn nicht zu vertreten2. Aber unser
Autor häuft die Beispiele aus der Erfahrung zum Belege seiner
Ansicht und beruft sich auf Augustin und Bernhard. Und über-
dies: wie oft vermag der Verstand gar nicht eindeutig zu entschei-
den! Wie häufig schwankt er in seinem Urteil zwischen der Ab-
lehnung des Ganzen und der Befürwortung der annehmlichen Teil-
vorstellungen, zwischen dem größeren und dem kleineren Übel;
wie oft irrt er, verführt durch die Neigungen des Willens, schlechte
Gewohnheiten oder sonstige Trübungen!3 Kann doch der Wille
durch fortgesetzte schlechte Gewöhnung die Vernunft selbst ver-
derben!4 Gewiß wird jede Willensentscheidung durch eine Vor-
stellung bestimmt, die uns irgendwie sub rtaione boni erscheint;
aber es ist der grundlegende Irrtum der „üblichen Ethik“5, diese
ratio boni mit dem Ergebnis der vernünftigen Überlegung (Syllo-
gismus practicus) zu identifizieren. Tatsächlich gibt es eine ganze
Welt von Willensentschlüssen, die dieser geordneten Vernunft
bewußt entgegenlaufen. Gerade die gründliche Überlegung des
sittlichen Entschlusses führt unter Umständen in größte Gefahr,
indem sie das Lockende der Sünde mit der rauhen Strenge der
Tugend in Vergleich stellt; und selbst das Gebet für die, mit denen
wir gesündigt haben, kann uns zum Fallstrick werden. Derartige
Betrachtungen werden immer von neuem ausgesponnen, und man
kann sich schwer dem Eindruck entziehen, daß hier ein Mann
spricht, der die alles übertäubende Macht der Leidenschaften im
eigenen Innern leidend erfahren hat.
1 Art. 5, concl. 2, Bl. 281, c. — Die immer wiederkehrende Erörterung-
gerade der sexuellen Sünden legt dem modernen Leser die Erinnerung an das
Zölibat der mittelalterlichen Universitätslehrer nahe.
2 Siebeck, 1. c. 203.
3 Bl. 282 a—b: Idem Syllogismus practicus aliquid ostendit non faciendum
ratione totius et ad idem faciendum inclinat ratione partis. — Saepe voluntas
male eligit et tarnen nullus error in ratione existit. — Voluntas potest eligere
contra ludicium rationis practice complexum in universali et particulari usw,
4 Bl. 284, b.
5 Bl. 282, d. Obiectio: Opinio communior et in questionibus ethicorum
communiter scripta; dazu Bl. 283, b: Motiva opinionis contrarie . . . fundant.
se super hoc, quod omni tempore, quo voluntas aliquid vult, quod illud velit per
syllogismum practicum concludentem illud esse bonum. —
 
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