Gerhard Ritter:
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Im übrigen sind es keineswegs nur die niederen Seelenregungen,
die sich ohne verstandesmäßige Überlegung auswirken. Der Künstler
schafft einfach aus den inneren Antrieben seiner Kunst heraus1;
auch wäre es kindlich, zu behaupten, der Denker sei sich aller ein-
zelnen Sätze und Prädikate bewußt, mit denen er bei seinen Speku-
lationen operiert2. Und wie viele Handlungen gehen aus einfacher
mechanischer Gewöhnung hervor!
Man sieht: hier wird dem unbewußten und halbbewußten
Leben der Seele mit vielem Erfolge Raum erkämpft neben der
Helle des aristotelischen Intellektualismus.
Wie verläuft nun der Willensvorgang in jedem einzelnen Falle ?
Marsilius beschreibt ihn, nach dem Vorbilde Buridans3, in voll-
kommener Kongruenz mit der Analyse der intellektiven Vorgänge:
wie der Intellekt in einem primus actus die phantasmata rezeptiv
entgegennimmt, um sie dann in einem zweiten Akte aktiv zu ver-
arbeiten, so verhält sich auch der Wille gegenüber den vom Ver-
stand ihm dargebotenen Vorstellungen zunächst passiv: er emp-
findet Gefallen oder Mißfallen; es folgt der aktive Entschluß:
Annahme oder Verwerfung, und endlich, als dritter Akt, die
Gefühlsbetonung des Ergebnisses: Lust bezw. Unlust4.
Von hier aus wird nun das Problem der Willensfreiheit in
Angriff' genommen. Zunächst ist rundweg anzuerkennen, daß die
„ersten Akte“ des Willens nicht frei erfolgen; niemand hat es
in der Hand, die complacentia oder displicentia zu verhindern, die
z. B. der Anblick des Weibes in ihm erweckt. Theologisch aus-
gedrückt: die läßliche Sünde des Wohlgefallens an etwas Bösem
kann im Stande der Erdenpilgerschaft nicht ganz vermieden werden,
da wir rings von Versuchungen umgeben sind5. Auch gegenüber
den komplexen Willensvorgängen trifft das zu: der Intellekt kann
ja irrig etwas Böses als Gut empfehlen. Doch bedeutet das noch
nicht Unfreiheit des Willens, auch nicht bedingungslose Abhängig-
keit von der Darbietung des Verstandes. Der Wille kann in vielen
1 Qu. 16, art. 2, Bl. 277, a. Ille volitiones inferiores, quibus [artifex] sic
vult agere, ut ars exigit, sunt actus voluntatis. Die Stelle ist schon von Siebeck
(208) bemerkt.
2 ibidem: Si quis vult studiere vel speculari bene, puerile esset dicere, quod
omnem propositionem, quam formal, formaret per previam /"so statt: primam]
deliberationem vel etiam otnne predicatum, quod predicat.
3 Vgl. Siebeck, 1. c. 201.
4 Qu. 16, art. 1, Bl. 274, c.
5 Qu. 16, art. 1, Bl 275, b.
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Im übrigen sind es keineswegs nur die niederen Seelenregungen,
die sich ohne verstandesmäßige Überlegung auswirken. Der Künstler
schafft einfach aus den inneren Antrieben seiner Kunst heraus1;
auch wäre es kindlich, zu behaupten, der Denker sei sich aller ein-
zelnen Sätze und Prädikate bewußt, mit denen er bei seinen Speku-
lationen operiert2. Und wie viele Handlungen gehen aus einfacher
mechanischer Gewöhnung hervor!
Man sieht: hier wird dem unbewußten und halbbewußten
Leben der Seele mit vielem Erfolge Raum erkämpft neben der
Helle des aristotelischen Intellektualismus.
Wie verläuft nun der Willensvorgang in jedem einzelnen Falle ?
Marsilius beschreibt ihn, nach dem Vorbilde Buridans3, in voll-
kommener Kongruenz mit der Analyse der intellektiven Vorgänge:
wie der Intellekt in einem primus actus die phantasmata rezeptiv
entgegennimmt, um sie dann in einem zweiten Akte aktiv zu ver-
arbeiten, so verhält sich auch der Wille gegenüber den vom Ver-
stand ihm dargebotenen Vorstellungen zunächst passiv: er emp-
findet Gefallen oder Mißfallen; es folgt der aktive Entschluß:
Annahme oder Verwerfung, und endlich, als dritter Akt, die
Gefühlsbetonung des Ergebnisses: Lust bezw. Unlust4.
Von hier aus wird nun das Problem der Willensfreiheit in
Angriff' genommen. Zunächst ist rundweg anzuerkennen, daß die
„ersten Akte“ des Willens nicht frei erfolgen; niemand hat es
in der Hand, die complacentia oder displicentia zu verhindern, die
z. B. der Anblick des Weibes in ihm erweckt. Theologisch aus-
gedrückt: die läßliche Sünde des Wohlgefallens an etwas Bösem
kann im Stande der Erdenpilgerschaft nicht ganz vermieden werden,
da wir rings von Versuchungen umgeben sind5. Auch gegenüber
den komplexen Willensvorgängen trifft das zu: der Intellekt kann
ja irrig etwas Böses als Gut empfehlen. Doch bedeutet das noch
nicht Unfreiheit des Willens, auch nicht bedingungslose Abhängig-
keit von der Darbietung des Verstandes. Der Wille kann in vielen
1 Qu. 16, art. 2, Bl. 277, a. Ille volitiones inferiores, quibus [artifex] sic
vult agere, ut ars exigit, sunt actus voluntatis. Die Stelle ist schon von Siebeck
(208) bemerkt.
2 ibidem: Si quis vult studiere vel speculari bene, puerile esset dicere, quod
omnem propositionem, quam formal, formaret per previam /"so statt: primam]
deliberationem vel etiam otnne predicatum, quod predicat.
3 Vgl. Siebeck, 1. c. 201.
4 Qu. 16, art. 1, Bl. 274, c.
5 Qu. 16, art. 1, Bl 275, b.