Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0157
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Studien zur Spätscholastik. I.

157

Fällen das Auftauchen bestimmter Vorstellungen vermeiden (z. B.
indem er den Besuch des Hurenhauses verhindert), sodann aber,
und das ist wichtiger: er braucht dem ersten Akt nicht den zweiten
folgen zu lassen. Seine Freiheit besteht nicht gegenüber den ersten
Regungen, aber sie ist Freiheit des Entschlusses — nicht Freiheit
des (passiven) Gefühls, aber Freiheit des (aktiven) Handelns. Nur
im Entschlüsse tritt der ,,Wille“ im strengsten Sinne des Wortes
zutage1. Was befähigt ihn zu solcher Loslösung von der Einwir-
kung des vorgestellten Objekts ? Marsilius folgt auch hier den
Spuren Buridans. Die sittliche Verantwortlichkeit des Menschen
beruht darauf, daß er imstande ist, den Intellekt zu zwingen
(cohibere), ihm ein begehrtes Objekt nicht sub ratione boni, sondern
mali zu zeigen2, und dann dem nunmehr besser Erkannten zu folgen.
Das bedarf der näheren Betrachtung.
Zunächst gilt es das Problem absolut scharf zu formulieren.
Es handelt sich um den Begriff der sittlichen Freiheit, nicht um
die „kontingente“ Willkür, um die innere, nicht um die äußere
Freiheit. Das äußere Handeln der Menschen steht unter dem
Zwrang äußerer Verhältnisse, die nicht völlig in seiner Macht liegen;
hier soll nur von dem Willensentschluß die Rede sein3. Und es
ist auch gänzlich uninteressant, ob der Mensch grundlos bald so,
bald so handeln, bald diese, bald jene Vorstellung auf seinen Willen
wirken lassen kann. Das gehört in das Gebiet natürlicher Zufällig-
keiten4. Vielmehr ist die Frage: ist der Wille gezwungen, das ihm
vom Verstand sab ratione boni vorgehaltene Objekt in jedem Falle,
also vor allem wrenn das bonum ein sittliches malum ist, nicht nur
mit Wohlgefallen bezw. Mißfallen zu betrachten, sondern auch
anzunehmen bezwc abzulehnen? Oder ist ihm ein neutrales Ver-
halten, eine einfache Abwendung von dem vorgestellten Gegen-
stand möglich ? Es ist die entscheidende Frage des großen Streites
der Scholastiker über den Einfluß des Intellekts auf den Willen,
und indem Marsilius im Gegensatz zu Thomas die zweite Alter-
native bejaht, beruft er sich nicht nur auf die „Pariser Artikel“
Stephan Tempiers von 1277, sondern vor allem auf die Selbst-
beobachtung: ich kann, wenn ich will, den W illensentschluß suspen-
1 1. c. art. 3, concl. 3, conf., BI. 280, d. Im actus primus ist nicht der
Wille als solcher, sondern der Intellekt causa efficiens, der Wille nur soweit,
als Wille und Verstand im Grunde identisch sind.
2 1. c. art. 1, Bl. 275, b.
3 1. c. art. 2 ,concl. 2, Bl. 276, b.

4 ibid. concl. 3.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften