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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0159
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Studien zur Spätscholastik. I.

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sündigen zu können (sonst wäre Gott unfrei), noch in der Fähig-
keit äußeren freien Handelns; ebensowenig verhindert sie die
Möglichkeit, daß sich der böse Wille in der Verstockung endgültig
zum Bösen determiniert. Ihr eigentliches Wesen liegt vielmehr in
der Fähigkeit, ein vorgestelltes Gut annehmen oder nicht annehmen,
sondern neutral betrachten zu können1 bis zum Erscheinen einer
berichtigten (mit dem der sittlichen Norm entsprechenden Gefühls-
gehalt geladenen) Vorstellung. Diese Fähigkeit besteht trotz aller
niederdrückenden Erfahrung sittlicher Niederlagen. Es gibt einen
sittlichen Willen, dessen Kraft aller Versuchung zu widerstehen
imstande ist. Wo er lebendig ist, vermag keine Macht der Welt
ihn zum Wollen oder Nichtwollen zu zwingen2. Die Geschichte der
Heiligen und Märtyrer beweist das mit überzeugender Klarheit.
Nur Gott vermag in seiner absoluten Macht (de lege absoluta) diese
Freiheit aufzuheben; er würde, auch ohne den Willen des Menschen
zu zerstören, diesem die Freiheit des Handelns rauben können,
indem er seine — sonst stets mittätige — Mitwirkung als causa
prima versagte. Aber abgesehen davon, daß er de lege ordinata
uns die Freiheit läßt — ein solcher Eingriff ist immer nur tatsäch-
lich, nicht grundsätzlich. Das Wesen der sittlichen Freiheit läßt
diese Einschränkung unberührt3.
Die Folgerichtigkeit dieses ganzen Gedankenzusammenhangs4
kann man nicht ohne Bewunderung anerkennen. Die Problem-
verschlingung, in der die Diskussion zwischen Deterministen und
Indeterministen stecken geblieben war, ist hier deutlich aufgelöst:
1 Die Einschränkung der Freiheit, daß der Wille das klar erschaute
oberste Ziel alles Wollens — Gott — nicht ablehnen kann, gilt erst für das
jenseitige Leben.
2 Bl. 285, c, concl. 7: Nee virtus creata voluntatem cogere potest ad intra
ad volendum vel nolendum.
3 Es ist im Interesse der Prädestinationslehre sehr wichtig, hier festzu-
stellen: 1. M. v. I. hält einen Eingriff Gottes in das Spiel des freien Willens
im Sinne einer Festlegung für Gut oder Böse de lege absoluta für ausgeschlossen,
solange überhaupt noch von Willen des Menschen die Rede sein kann (volun-
täte remanente). 2. Eine Versagung der Mitwirkung Gottes als prima causa
im Handeln ist de lege ordinata gleichfalls ausgeschlossen. 3. In der Prä-
destination kann es sich also keinesfalls um einen dieser Eingriffe handeln,
sondern nur um eine Versagung, bezw. Gewährung der gratia, die den sitt-
lichen Erfolg des Menschen durch Paralysierung der bösen Sinnesreizungen
erst ermöglicht. Vgl. 1. c., co. 8 — 10, Bl. 285, c —d.
4 Die knappe Darstellung Stöckls II 1053 ist unrichtig, da sie die wich-
tigsten Gedanken übersieht
 
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