Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0166
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Gerhard Ritter:

166
Für unsere Untersuchung indessen besitzt diese Kontroverse noch
ein besonderes Interesse. Wir kennen bereits die innere Verwandt-
schaft, die unsern Autor mit Gregor .von Rimini verbindet. Gelingt
uns der Nachweis, daß diese Verwandtschaft auch gegenüber dem
weittragendsten und innerlichsten theologischen Problem, der Frage
nach Sünde und Gnade, sich bewährt, so wird man es aufgeben
müssen, mit dem parteiisch urteilenden Reformator1 Gregor von
Rimini als einen Eigenbrötler unter den Spätscholastikern zu beur-
teilen. Zugleich würde sich erweisen, daß der bisher von uns
beobachtete Gegensatz der philosophischen und religiösen Grund-
stimmung zwischen Okkam und unserm Theologen (trotz so man-
cher Übereinstimmung im einzelnen) in die letzten Tiefen der Welt-
und Gottesanschauung hinabreicht.
Unsere Retrachtung der Willenslehre des Marsilius ermöglicht
uns sogleich ein zureichendes Verständnis der hier grund-
legenden Theorie der Erbsünde. Die dogmengeschichtlich
entscheidende Frage ist, ob sich unser Autor der Auffassung
Okkams anschließt, der, skotistischen Anregungen folgend,
aber zugleich seiner eigenen empiristischen Abneigung gegen
spekulative Konstruktionen getreu, die Sünde als einen Re-
griff, nicht als eine psychologische oder gar metaphysische Realität
betrachten wollte. Eine gewisse krankhafte Verderbnis unserer
Anlage (fomes peccati) wollte er anerkennen; aber die Sünde sollte
nur in den einzelnen bösen Handlungen zum Ausdruck kommen,
die Erbschuld in der rein ideellen Zurechnung der Schuld und Strafe
Adams bestehen; eine physische Vererbung ymrde in Abrede
gestellt2. Die Willensfreiheit und Verantwortlichkeit des Menschen
wurde nicht wesentlich durch die Erbsünde eingeengt.
Nun wissen wir bereits, wie lebendig Marsilius die tatsächliche
Einengung unseres Willens durch die Macht der sensualen Re-
gehrungen empfindet und zu schildern weiß. Dem entspricht auf
das Genaueste seine Sündenlehre. Der Widerstreit zwischen Ver-
nunft und Sinnlichkeit ist mit. dem rein natürlichen Dasein der beiden
Seelenstufen selbst gegeben. Würde Gott heute einen Menschen
schaffen, in puris naturalibus, ohne jeden Zusammenhang mit dem
Adamsgeschlecht, so würde sich in seiner Rrust sogleich derselbe
Kampf der „zwei Seelen“ erheben, der uns allen täglich das Leben
zerreißt3. Auch die ersten Menschen vor dem Sündenfall wären
1 Scheel II2, 90. 2 Seeberg III3, 644.
3 lib. sent. II, qu. 19, art. 2, Bl. 304 v ff.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften