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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0167
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Studien zur Spätscholastik. I.

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davon nicht, verschont geblieben, hätte ihnen Gott nicht aus beson-
derer Gnade jene wundervolle, erst durch den Sündenfall für immer
zerstörte Harmonie von Leiblichem und Geistigem verliehen, die
das Leben zum Paradiese machte. Freilich ist die Eingießung
dieser Gnade nicht in demselben Sinne zu verstehen, wie sie uns
Sündern im Sakrament der Versöhnung zuteil wird: sie bedurften
nicht der gratia gratum faciens, die gratia gratis data (donum dei
gratuitum) genügte1. Aber ohne solch übernatürliches Geschenk
wäre Adam schon vor dem Sündenfall von derselben Konkupiszenz
bedrängt worden, die uns alle quält.
Es bedurfte also nicht einer besonderen Verderbnis der ur-
sprünglichen Menschennatur durch Adams Sündenfall, um die
iusticia originalis zu zerstören. Diese ursprüngliche Gerechtigkeit
wird ähnlich wie bei Thomas durch den dreifachen Vorzug des
rechten Willens, der rechten Erkenntnis und des vollkommenen
Gehorsams der niederen Seelenkräfte gegenüber der Vernunft
näher bestimmt2. Da Gott sie unsern Voreltern verliehen hat,
verlangt er sie auch von uns. Aber durch Adams Fall ist sie dem
Menschengeschlecht verloren gegangen, und insofern ist unsere
Natur durch die Sünde „verwundet“. Die Begehrlichkeit (concupis-
cibilitas) waltet seitdem, sich selbst überlassen, im natürlichen
Zustand, ungehemmt durch die Gnade. Als Sünde ist sie indessen
nur um jenes göttlichen Gebotes willen, nicht ihrem natürlichen
Wesen nach, zu betrachten3. Sie wird psychologisch genau definiert4.
Als Naturanlage (habitus) ist sie nicht identisch mit den einzelnen
Begierden (actus concupiscentiae), sondern jene wohlbekannte Ge-
neigtheit unserer Natur, dem Einfluß der Sinnesreizungen stärker
nachzugeben, als dem Gebote Gottes und der Vernunft. Ihren Sitz
hat sie nicht eigentlich im Willen, sondern in dem gesamten beseel-
ten Organismus (s. o. S.153), der in diesem Sinne als das „Fleisch“
im Gegensatz zum Geist bezeichnet wird. Soweit intellektive Vor-
1 II, qu. 16, art. 5, Bl. 286. Das wäre also wohl das adjutorium Augu-
stins, vgl. A. Dorner, Augustin, 118. Auch Thomas von Aquino nahm an,
daß Adam im Paradiese die Gnade besaß, und zwar (abweichend) die gratia
gratum faciens. L. II, qu. 16, art. 5; dazu Stöckl II. 706. Gregor urteilt
ebenso wie M. v. I.: 1. II, dist. 19, qu. 1, art. 1, concl. 1 — 3, Bl. 95/6.
2 1. II, qu. 19, art. 3, BI. 309, d, ad tertium opp.
3 ibid. concl. 3, corell. 3, Bl. 308, c.
4 Art. 3, concl. 1 — 2, Bl. 308, b: Concupiscentia aptitudinalis [== habi-
tudinalis] sive concupiscibilitas vel etiam pronitas ad concupiscendum. Das
folgende: Bl. 208c —d.
 
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