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Gerhard Ritter:

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Stellungen bei der Begelirung mitwirken, zieht sie freilich auch den
Willen in ihren Bann; dann steigt gleichsam der Herrscher unter
den Seelenkräften eine Stufe herab zu seinen wilden freien Dienern,
den Trieben. Beim Zustandekommen jedes einzelnen Aktes der
sündhaften Begehrung wirken außer der sündhaften Anlage noch
bestimmte körperliche und Charakterverhältnisse des begehrenden
Individuums und die Eigentümlichkeiten des begehrten Objektes
mit. Sonach gestaltet sich jeder Akt des Begehrens je nach Um-
ständen verschieden an Stärke und Richtung. Jeder bestimmte
Mensch, jeder bestimmte Charakter, jedes bestimmte Tempera-
ment hat seine besonderen Schwächen, in denen man den Zwang
seiner Naturanlage besonders lebhaft empfindet.
Wir sehen schon jetzt, daß die Theorie Okkams hier verlassen
ist. Die Erbsünde erscheint nicht mehr bloß als rein begriffliche
Anrechnung (imputat io) einer idealen Schuld auf das ganze Menschen-
geschlecht, sondern als eine höchst lebendige Realität im täglichen
Ringen des strebenden Menschen um sittliche Vollkommenheit.
Die kräftige religiöse Empfindung Augustins und der älteren Scho-
lastik bis auf Thomas von der sündhaften Anlage unseres Wesens,
die Luther bei den Erfurter Modernen vermißte, ist hier wieder
lebendig. Im einzelnen entspricht das meiste den Lehren der Hoch-
scholastik. Doch ordnet Marsilius alles mit Klarheit in den festen
Rahmen seiner natürlichen Psychologie ein. Die Erbsünde hat in
ihrer realen Erscheinung (materialiter) nichts Geheimnisvolles: es
ist einfach die natürliche Schwäche unseres Willens gegenüber
den Anreizen der Sinne, die in jedem einzelnen Falle zur Schuld
wird, indem die sittlichen (rationalen) Motive unserer Seele sich
schwächer erweisen als die entgegengerichteten. Nicht daß wir
so schwach sind, sondern daß die ursprüngliche Gnade Gottes (die
iustitia originalis) dieser Schwäche nicht mehr zu Hilfe kommt,
ist als Folge und Strafe der Verfehlung Adams zu betrachten1.
Von einer Verderbtheit (deformitas) unserer Natur2, einem fomes
peccati, kann nur in einem mehr bildlichen als eigentlichen Sinne
die Rede sein. Unsere Verantwortlichkeit für unsere Handlungen
bleibt bestehen, insofern unser Wille trotz seiner ständigen Ge-
1 1. c. art. 2, Bl. 306, a, „ad 2“.
2 Der Ausdruck kommt vor 1. c. art. 1, Bl. 304, b, wo das Wesen der
Erbsünde als culpa erörtert wird; von culpa kann nur die Rede sein, soweit
der freie Wille Adams mit im Spiel ist: Peccatum originale est deformitas aliquo
modo voluntaria.
 
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