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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0170
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170

Gerhard Ritter:

iusticie debile im Wesen. Für die religiöse Praxis und für die theo-
logische Stellung des Marsilius ist deshalb allein entscheidend, daß
er zwar nicht das Wesen der Erbsünde, wohl aber ihre Folge und
materielle Erscheinungsform, die Konkupiszibilität als eine seelische
Tatsache von höchster Bedeutung empfand und darstellte. Ihr
natürlich-psychologischer Charakter bewährte sich ihm auch darin,
daß ihre Vererblichkeit — gewissermaßen als eine allen Menschen
gemeinsame, wenn auch in Stärke und Richtung wechselnde
Charakteranlage — auf rein naturwissenschaftlichem Wege be-
gründet werden sollte1.
Für Luthers inneres Erleben war es später entscheidend, daß
er die aus der Erbsünde entspringenden Taten trotz ihrer Begrün-
dung in dem Verhängnis der erblichen Konkupiszenz aufs stärkste
als persönliche Schuld empfand. Ein ähnliches Interesse an der
persönlichen Verantwortlichkeit trieb Okkam, den Charakter der
Erbsünde als einheitliche Disposition des natürlichen Willens auf-
zugeben und statt dessen sich an die einzelnen sündhaften Taten
zu halten. Die psychologische Lehre des Marsilius dagegen er-
möglichte es, in der Art der älteren Theologie, die religiöse Er-
kenntnis unserer sündhaften Naturanlage mit der Betonung der
menschlichen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit zu verbinden,
ohne den natürlichen Kräften des Menschen zuviel Vertrauen zu
schenken. Das Maß dieses Zutrauens wird über sein inneres Ver-
hältnis zu der religiösen Leitidee des späteren Reformators in erster
Linie entscheiden. Das führt uns sogleich hinüber zur Gnadenl ehr e.
Die eigentümlich gebundene Anschauung der scholastischen
Theologie, nach der die Gnadengewährung nicht wie bei Luther
als ein Vorgang höchst persönlicher Art zwischen dem Christen und
seinem Gotte erscheint, sondern als eine sakramentale Handlung,
gebunden an die offizielle Mitwirkung der kirchlichen Beamten
und mit dem Ziel der magischen Veränderung der sündhaften
Seele, wird natürlich auch von unserem Theologen vertreten. Zwar
hören wir gelegentlich den okkamistischen Satz, daß Gott de lege
absoluta auch ohne die offizielle sakramentale Eingießung der
Gnade den Sünder annehmen könne2; aber so wenig wie für Okkam,
1 1. c. Bl. 310, a —b. Beobachtung größerer Sinnlichkeit bei unehe-
lichen Kindern, als bei ehelichen; Einfluß des Vorstellungslebens der schwan-
geren Mutter auf die Frucht usw.
2 lib. II, qu. 17, art. 2, concl. 2, Bl. 291. — Lib. I, qu. 20, art. 20,
Bl. 84, b werden diese Überlegungen als „logische Subtilitäten“ ohne eigent-
lich theologischen Wert bezeichnet!
 
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