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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0178
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178

Gerhard Ritter:

widerspräche nicht nur seiner Majestät, sondern ebensogut dem
Begriff der Gerechtigkeit. Ist doch alles, was wir besitzen und
leisten, von den Regungen des natürlichen Gewissens bis zur Hei-
ligung im Sakramente, nichts als sein Geschenk. Was haben wir
Armen ihm also zu bieten? Unsere Schuld an ihn ist so groß: je
mehr wir davon abzahlen, desto größer wird sie nur1. Und steht
es denn nicht so, daß der Gerechtfertigte auch nach der Eingießung
der Liebe dem sündigen Fleische verhaftet bleibt ?2 Wenn also die
Werke des Gerechtfertigten den Anspruch erheben können, in
irgend einer Weise als verdienstlich de condigno zu gelten, so kann
wiederum nur die freie Annahme der göttlichen Gnade dafür der
Grund sein, die uns armen Sündern das Verdienst des Leidens
Christi zugute kommen läßt; und zwar so, daß diese Anrechnung
ursprünglich aus dem Verdienste Christi, nicht dem unseren, hervor-
geht3. Niemals kann Gott gleichsam unser Schuldner werden4. So
ist es richtiger, die Werke des Begnadigten nicht de condigno, son-
dern de congruo verdienstlich zu nennen: Gottes Annahme allein
ist es, die sie zu Verdiensten erhebt5.
Diese abschließenden Bestimmungen über das menschliche
Verdienst sind von größter Bedeutung für die dogmengeschicht-
liche Stellung unseres Theologen. Auch Thomas hatte die „Ver-
dienste“ des im Besitze der gratia gratum faciens stehenden Men-
schen ähnlich bestimmt: als menschliche Verdienste betrachtet,
sollten sie nur de congruo Wert haben; nur im Hinblick auf die in
ihnen zur Geltung kommende Mitwirkung des heiligen Geistes
könne man von einem „zureichenden“ Verdienste (de condigno)
sprechen. Die Formulierung des Marsilius ist vielleicht noch ein-
deutiger: in den Werken selbst liegt überhaupt kein Verdienst. Das
sola gratia, die Alleinwirksamkeit Gottes im Sinne Augustins ist
mit einer Energie festgehalten, die keiner Steigerung mehr fähig ist.
1 I. c. Bl. 300, d: Talis est obligatio creature ad deum, quod quanto plus
solvit, tanto plus tenetur.
2 1. I, qu. 20, a. 3, prop. 7, Bl. 86, a.
3 1. c. a. 4, concl. 2, Bl. 301, a: Huismodi opera possunt dici vite eterne
meritoria de condigno ex acceptatione divina originaliter procedente ex
merito passionis Christi. Probatur sic: quia finaliter in gratia persistentes
digni sunt vita eterna, vel ergo pro qualitate operum, et hoc non, . . . vel per dei
acceptationem, et habetur propositum.
4 1. c. Bl. 301, b.
5 1. c. concl. 3, Bl. 301, c: Opera facta ex gratia merentur vitam eternam
de congruo ex liberali dei dispositione, qua disposuit ea sic premiare.
 
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