Studien zur Spätscholastik. I.
179
Gregor von Rimini hat die zuletzt besprochenen Fragen in den allein
überlieferten beiden ersten Büchern seines Sentenzenwerkes, soviel
ich sehe, nicht mehr behandelt. Aber der ganze Aufriß dieser
Gnadenlehre des Marsilius entspricht dem Geiste des Augustin,
der die beiden Theologen innerlich verbindet, in hohem Maße1.
Und so ist es denn nicht weiter verwunderlich, wenn Marsilius in
der Lehre von der Prädestination, die wir als Abschluß dieser
theologischen Gedankenreihe noch betrachten wollen, mit offenem
Visier auf die Seite des Augustinergenerals tritt, dessen Sätze er
ohne wesentliche Veränderung übernehmen wolle2.
Alle Motive der Gnaden- und Willenslehre laufen in dieser,
die ganze Theologie beherrschenden Krönung des Systems zu-
sammen. Der unauflösliche Widerspruch zwischen den beiden Ge-
dankenreihen der Alleinwirksamkeit Gottes und der menschlichen
Verantwortlichkeit (im letzten Grunde das Rätsel aller geistigeren
Religiosität) der schon das System Augustins so widerspruchs-
voll gestaltet hatte, war der Anstoß immer erneuter Gedanken-
arbeit des Mittelalters gewesen. Die Antwort fiel verschieden aus,
je nachdem die eine oder die andere Ideenreihe für den Betrachter
mehr im Vordergrund stand. Für die skotistisch-okkamistische
Schule lag die Sache besonders schwierig, weil ihr beide Motive
Augustins, die menschliche Willensfreiheit so gut wie die unbe-
schränkte Allmacht, ja Willkür Gottes, wichtig waren. Die Lösung
Okkams blieb deshalb recht unbefriedigend; er wußte vor allem
nicht recht zu erklären, wie die Fähigkeit des Menschen zu verdienst-
lichen Taten mit dem dunkeln Verhängnis der göttlicher Vorher-
bestimmung zum Verderben in Einklang zu bringen sei. Es scheint,
daß die innere Unsicherheit über das Maß und den Erfolg der
eigenen Taten, die aus dieser Lehre in der Fassung der Erfurter
Okkamisten entspringen mußte, das wichtigste unter den Motiven
war, die den jungen Luther in die Verzweiflung hineinstießen3.
1 Gregor läfSt auch den durch die eingegossene Gnade Erneuerten die
Sünde nur mit Hilfe einer jedesmal erneuten und besonderen Gnade Gottes
vermeiden. Diese ans Physische streifende, das geistige Moment der Erneu-
erung ganz unterdrückende Konsequenz findet sich bei M. v. I. nicht! Vgl.
Gregor in 1. II sent., dist. 26 — 28, qu. 2, art. 2, Bl. 93, c. — Häufiger als den
Gregor zitiert M. v. I. in der Gnadenlehre den Augustiner Thomas von Straß-
burg.
2 1. I, qu. 41, a. 2, Bl. 173, a.
3 Scheel II2, 151. Noch schärfer formuliert von A. V. Müller, Luthers
Werdegang.
. 1L:
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Gregor von Rimini hat die zuletzt besprochenen Fragen in den allein
überlieferten beiden ersten Büchern seines Sentenzenwerkes, soviel
ich sehe, nicht mehr behandelt. Aber der ganze Aufriß dieser
Gnadenlehre des Marsilius entspricht dem Geiste des Augustin,
der die beiden Theologen innerlich verbindet, in hohem Maße1.
Und so ist es denn nicht weiter verwunderlich, wenn Marsilius in
der Lehre von der Prädestination, die wir als Abschluß dieser
theologischen Gedankenreihe noch betrachten wollen, mit offenem
Visier auf die Seite des Augustinergenerals tritt, dessen Sätze er
ohne wesentliche Veränderung übernehmen wolle2.
Alle Motive der Gnaden- und Willenslehre laufen in dieser,
die ganze Theologie beherrschenden Krönung des Systems zu-
sammen. Der unauflösliche Widerspruch zwischen den beiden Ge-
dankenreihen der Alleinwirksamkeit Gottes und der menschlichen
Verantwortlichkeit (im letzten Grunde das Rätsel aller geistigeren
Religiosität) der schon das System Augustins so widerspruchs-
voll gestaltet hatte, war der Anstoß immer erneuter Gedanken-
arbeit des Mittelalters gewesen. Die Antwort fiel verschieden aus,
je nachdem die eine oder die andere Ideenreihe für den Betrachter
mehr im Vordergrund stand. Für die skotistisch-okkamistische
Schule lag die Sache besonders schwierig, weil ihr beide Motive
Augustins, die menschliche Willensfreiheit so gut wie die unbe-
schränkte Allmacht, ja Willkür Gottes, wichtig waren. Die Lösung
Okkams blieb deshalb recht unbefriedigend; er wußte vor allem
nicht recht zu erklären, wie die Fähigkeit des Menschen zu verdienst-
lichen Taten mit dem dunkeln Verhängnis der göttlicher Vorher-
bestimmung zum Verderben in Einklang zu bringen sei. Es scheint,
daß die innere Unsicherheit über das Maß und den Erfolg der
eigenen Taten, die aus dieser Lehre in der Fassung der Erfurter
Okkamisten entspringen mußte, das wichtigste unter den Motiven
war, die den jungen Luther in die Verzweiflung hineinstießen3.
1 Gregor läfSt auch den durch die eingegossene Gnade Erneuerten die
Sünde nur mit Hilfe einer jedesmal erneuten und besonderen Gnade Gottes
vermeiden. Diese ans Physische streifende, das geistige Moment der Erneu-
erung ganz unterdrückende Konsequenz findet sich bei M. v. I. nicht! Vgl.
Gregor in 1. II sent., dist. 26 — 28, qu. 2, art. 2, Bl. 93, c. — Häufiger als den
Gregor zitiert M. v. I. in der Gnadenlehre den Augustiner Thomas von Straß-
burg.
2 1. I, qu. 41, a. 2, Bl. 173, a.
3 Scheel II2, 151. Noch schärfer formuliert von A. V. Müller, Luthers
Werdegang.
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