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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0180
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Gerhard Ritter:

180

Auch Marsilius empfindet den Ernst des Problems, dessen Er-
örterung weit über die theologischen Kreise hinaus brennendes
Interesse erwecke, und die Schwierigkeit der Lösung so lebhaft,
daß er nur stammelnd (balbutiendo) und unter zahlreichen Vor-
behalten eine Antwort wagt1. Trotzdem ist von vornherein deut-
lich, daß ihm mit seinem stark eingeschränkten Freiheitsbegriff die
Auflösung der Widersprüche erheblich leichter fallen muß, als den
okkamistischen Theologen.
So kann er denn die Idee der Prädestination unbesorgt in den
radikalen Formeln entwickeln, wie sie etwa Duns Skotus benutzte.
Das leitende Motiv ist durchaus, die irrationale Freiheit und Kon-
tingenz des göttlichen Willens unter allen Umständen zu behaupten.
Etwa entgegenstehende Einwände der „sophistischen Logik“ müssen
schweigen2. Da Gottes Willen kontingent ist, muß auch das Ge-
schehen kontingent sein; ein gesetzlicher Zusammenhang des Welt-
geschehens im Sinne zwangsläufiger Vorherbestimmung wider-
spricht Gottes freier Allmacht3. Wie ist aber damit das Vorher-
wissen Gottes zu vereinigen? Die Lösung ist eine doppelte. Wenn
Gott voraus weiß, was geschehen wird, so weiß er auch, daß alles
kontingent geschieht; alle möglichen Änderungen müssen also in
seinem Wissen mit enthalten sein. Das wird ausführlich nach ver-
schiedenen Seiten hin erörtert. Aber logisch vorstellbar wird die
Sache dadurch nicht; sie ist schlechthin unbegreiflich, irrational4.
Darum folgt noch ein zweiter Lösungsversuch; es ist die augu-
stinische Formung des Ewigkeitsbegriffs: nicht die Unendlichkeit
der Zeit, sondern die Zeitlosigkeit soll darunter verstanden werden.
Die Schwierigkeit für unser Denken beruht nur darauf, daß wir
die Vorausbestimmung als etwas zeitlich Früheres betrachten,
1 1. I, qu. 40, a. 2, Bl. 168, a.
2 ibicl., rationes, Bl. 165, c. Das folgende art. 2, Bl. 166ff.
3 Diese Lehre der „Modernen“ von den fuiura contingentia hat eine
gewisse nachträgliche Berühmtheit dadurch erlangt, daß sie 1473 zum Gegen-
stand eines Streits zwischen Nominalisten und Realisten an der Pariser-
Universität wurde, in dem die Realisten den Aristoteles gegen sie ins Feld
führten. Baluzius, Miscellanea II 293ff. Vgl. darüber die II. dieser Studien.
Über die Lehre Okkams von den futura contingentia vgl. Pravtl III, 418,
no. 1039. Pravtl macht Bd. IV, 98 auf eine „dem M. v. I. sehr ähnliche“
Darlegung über futura contingentia des Ricardus de Capsalo in Okkams Ev-
positio aurea aufmerksam.
4 I. I. qu. 40, a. 2, Bl. 168, a.
 
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