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Mitteis, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 3. Abhandlung): Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und Frankreich — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38925#0005
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I.

Die folgenden Blätter wollen einen Beitrag zur vergleichenden
Verfassungsgeschichte des früheren Mittelalters liefern. Es soll
gezeigt werden, wie entscheidend die Verfassungsentwicklung
Deutschlands und Frankreichs im 10., 11. und 12. Jahrhundert
beeinflußt worden ist von Prozessen, also von Vorgängen rein
juristischer Natur. Ich nenne diese Prozesse „politische“ im vollen
Bewußtsein, daß ich damit ein Wort gebrauche, das bisher kein
festes Bürgerrecht in der juristischen Terminologie erworben hat.
Unsere Gesetzessprache kennt es nicht; auch in der Wissenschaft
wird der Ausdruck „politische“ Prozesse nur gelegentlich und ohne
Festlegung seines genauen begrifflichen Inhalts gebraucht; in
unserer Publizistik ist er zu abgegriffener Scheidemünze geworden.
Keinesfalls eignet er sich zur Bildung einer geschlossenen Kate-
gorie der modernen Rechtswissenschaft. Denn juristisch tragen
diese Prozesse keine Besonderheit an sich. Sie vollziehen sich in
den starren, gesetzlich festgelegten, verfassungsmäßig garantierten
Formen der Prozeßordnungen, unter dem Schutze des Prinzips
der Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Meist werden es die Formen
des Strafprozesses sein, die zur Verwendung gelangen; doch sind
auch politische Zivilprozesse denkbar und nicht ganz selten1.
So ist also das Gemeinsame dieser politischen Prozesse heute
nicht ein juristisches, eher ein sozialpsychologisches Moment.
Politisch wird ein Prozeß durch die zweckhafte Wertbetontheit, die
ihm innewohnt: sei es, daß die zur Aburteilung stehende Tat poli-
tischer Feidenschaft entsprungen ist, sei es, daß mit der Klage ein
bestimmter politischer Erfolg erstrebt wird, sei es auch nur, daß
1 Freilich ist die politische Bedeutung, die der ZP. als Ehescheidungs-,
Ehelichkeits- oder sonstiger Statusprozeß im monarchischen Staatsrecht haben
konnte (vgl. etwa Hermann Rehm, Modernes Fürstenrecht, 1904, S. 147ff.,
270ff.), heute geschwunden. Indessen sind gegenwärtig die Fürstenabfindungs-
prozesse von größter Bedeutung. Ferner sei erinnert an den Rechtsstreit um
das Thronlehen Oels (vgl. dazu Gutachten von Anschütz, Heidelberg 1921,
1924). Ein politischer Zivilprozeß kann auch der Streit um die Aufwertung
der alten Reichsbanknoten genannt werden, der durch das Urteil des Reichs-
gerichts vom 20. Mai 1926 (RGZ. Bd. 114, S. 29ff.) vorläufig beendigt ist.
 
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