Politische Prozesse.
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brauchen uns bloß zu erinnern, wie sehr die zeitgenössische Poesie1
den Herrscher nach seinen Leistungen als Wahrer des Rechtes
beurteilt — mehr noch als nach seinen kriegerischen Taten und
außenpolitischen Erfolgen. Schon daraus läßt sich eine Vermutung
dagegen herleiten, daß je ein Fürst des Mittelalters es gewagt haben
sollte, offen und vor aller Augen im Prozesse das Recht zu beugen,
und wenn noch so vitale Interessen seiner Herrschaft auf dem Spiele
standen. War der Herrscher des Mittelalters auch nicht konsti-
tutionell gebunden, so war er doch verstrickt in die Idee der funk-
tioneilen Verbundenheit von Recht und Pflicht, der Pflicht zur
Wahrung des Rechtes, das er selbst fordern durfte, dem er selbst
unterstand. Wenn irgendwo, so mußte sich hier dieser Eckstein des
mittelalterlichen Rechtssystems bewähren.
Es soll also versucht werden, die Rechtsnormen aufzuspüren,
denen die politischen Prozesse dreier Jahrhunderte unterstanden
haben. Denn das 10., 11. und 12. Jahrhundert ist die Zeitspanne, die
wir unter „früherem“ Mittelalter begreifen wollen. Unser Vorhaben
stößt freilich in Anbetracht der Quellenarmut gerade dieser Periode
auf erhebliche Schwierigkeiten. Es scheint fast, als müßten wir aus
diesen Prozessen selbst die Sätze gewinnen, nach denen wir sie
beurteilen sollten, als seien sie Untersuchungsobjekt und Erkenntnis-
quelle zugleich. Es gäbe nur dann einen Ausweg aus diesem cir-
culus vitiosus, wenn es gelänge, einen gemeinsamen Grundgedanken
zu finden, auf den wir die einzelnen Fälle in ihrer Totalität oder
wenigstens in den sie tragenden Momenten zurückführen könnten,
ein Prinzip, als dessen Emanation sich die einzelnen Prozesse
darstellten. Und hier kommt uns die Tatsache zu Hilfe, daß
fast alle politischen Prozesse unsrer Epoche sich in ein ganz be-
stimmtes Schema einordnen lassen, fast alle in einer stereotypen
Form ablaufen: Sie sind Kontumazialverfahren, Verfahren,
die sich ganz oder in ihrem entscheidenden Teile auf schuldhafte
Säumnis des Beklagten gründen. Und das ist zweifellos kein Zu-
fall. Denn fast stets hegt dieselbe eindeutig bestimmte psycho-
logische Kausalität vor: Der Angeklagte wird sich nicht stellen
wollen, sei es, daß er im trotzigen Übermut das Recht verweigert
und es auf die Machtprobe ankommen lassen will, sei es daß ihm
die Verteidigung von vornherein aussichtslos erscheint, daß er
1 Beispiele etwa bei G. Müller, Recht und Staat in unsrer Dichtung,
1924, S. 16ff., sowie bei Franklin, Reichshofgericht I 136, 142, insbes. die
Stellen aus Ottokar v. Horneck. Vgl. auch Kern, a. a. 0., S. 52.
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brauchen uns bloß zu erinnern, wie sehr die zeitgenössische Poesie1
den Herrscher nach seinen Leistungen als Wahrer des Rechtes
beurteilt — mehr noch als nach seinen kriegerischen Taten und
außenpolitischen Erfolgen. Schon daraus läßt sich eine Vermutung
dagegen herleiten, daß je ein Fürst des Mittelalters es gewagt haben
sollte, offen und vor aller Augen im Prozesse das Recht zu beugen,
und wenn noch so vitale Interessen seiner Herrschaft auf dem Spiele
standen. War der Herrscher des Mittelalters auch nicht konsti-
tutionell gebunden, so war er doch verstrickt in die Idee der funk-
tioneilen Verbundenheit von Recht und Pflicht, der Pflicht zur
Wahrung des Rechtes, das er selbst fordern durfte, dem er selbst
unterstand. Wenn irgendwo, so mußte sich hier dieser Eckstein des
mittelalterlichen Rechtssystems bewähren.
Es soll also versucht werden, die Rechtsnormen aufzuspüren,
denen die politischen Prozesse dreier Jahrhunderte unterstanden
haben. Denn das 10., 11. und 12. Jahrhundert ist die Zeitspanne, die
wir unter „früherem“ Mittelalter begreifen wollen. Unser Vorhaben
stößt freilich in Anbetracht der Quellenarmut gerade dieser Periode
auf erhebliche Schwierigkeiten. Es scheint fast, als müßten wir aus
diesen Prozessen selbst die Sätze gewinnen, nach denen wir sie
beurteilen sollten, als seien sie Untersuchungsobjekt und Erkenntnis-
quelle zugleich. Es gäbe nur dann einen Ausweg aus diesem cir-
culus vitiosus, wenn es gelänge, einen gemeinsamen Grundgedanken
zu finden, auf den wir die einzelnen Fälle in ihrer Totalität oder
wenigstens in den sie tragenden Momenten zurückführen könnten,
ein Prinzip, als dessen Emanation sich die einzelnen Prozesse
darstellten. Und hier kommt uns die Tatsache zu Hilfe, daß
fast alle politischen Prozesse unsrer Epoche sich in ein ganz be-
stimmtes Schema einordnen lassen, fast alle in einer stereotypen
Form ablaufen: Sie sind Kontumazialverfahren, Verfahren,
die sich ganz oder in ihrem entscheidenden Teile auf schuldhafte
Säumnis des Beklagten gründen. Und das ist zweifellos kein Zu-
fall. Denn fast stets hegt dieselbe eindeutig bestimmte psycho-
logische Kausalität vor: Der Angeklagte wird sich nicht stellen
wollen, sei es, daß er im trotzigen Übermut das Recht verweigert
und es auf die Machtprobe ankommen lassen will, sei es daß ihm
die Verteidigung von vornherein aussichtslos erscheint, daß er
1 Beispiele etwa bei G. Müller, Recht und Staat in unsrer Dichtung,
1924, S. 16ff., sowie bei Franklin, Reichshofgericht I 136, 142, insbes. die
Stellen aus Ottokar v. Horneck. Vgl. auch Kern, a. a. 0., S. 52.