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Heinrich Mitteis:
Existenz wenigstens ist sichergestellt1, nicht aber auch das Er-
gebnis (s. unten S. 96). Die eigentliche Kernfrage des Problems
liegt aber anders: hat, so steht der Streit, neben dem lehnrecht-
lichen noch ein zweites ,, 1 and rechtliches“, d. h. rein
strafrechtlich orientiertesVerfahren stattgefunden?
Sind Johann bloß wegen gewisser lehnrechtlicher Vertragsver-
letzungen seine Lehen aberkannt oder ist er außerdem wegen
der Ermordung seines Neffen Arthur geächtet oder gar zum
Tode verurteilt worden? In beiden Fällen könnte es sich, wie
noch gezeigt werden wird, nur um Versäumnisurteile gehandelt
haben. Von dem lehnrechtlichen Verfahren werden wir einiger-
maßen genügend durch zeitgenössische Chroniken unterrichtet;
von dem strafrechtlichen erfahren wir erst viel später etwas, aus
diplomatischen Verhandlungen nämlich, die 1216 zwischen kö-
niglichen und päpstlichen Gesandten in Frankreich, sowie mit
dem Papste selbst gepflogen wurden. Im letzterwähnten Falle
könnte es sich nur darum gehandelt haben, die Erbunwürdigkeit
Johanns und seiner Nachkommenschaft zu begründen und somit
die Thronfolge des französischen Königssohns, Ludwigs VIII., in
England zu sichern (s. unten S. 107). Daher die Beschuldigung
eines gemeinen Verbrechens und der Verurteilung deswegen.
Wäre dem so — das sei vorausgeschickt —, so hätten wir
in diesem höchst charakteristischen Punkte der Kumulation zweier
Prozesse, deren jeder einen ganz verschiedenen prozessualen Typ
repräsentiert, eine vollkommene Parallele zu den Verfahren gegen
Heinrich den Löwen. Aber diese Erwägung, so sehr sie dem Wunsche
nach Harmonie entgegenkommt, darf nicht zur petitio principii
werden. Erst die objektive Prüfung des Tatbestandes kann ergeben,
ob die Analogie wirklich zutrifft. Dabei sind die Ergebnisse der
älteren, insbesondere französischen und englischen Geschichts-
schreibung zu verwerten. Diese hat nun längst die Tatsache des
Lehnsverlustes Johanns in ihrer verfassungsgeschichtlichen Trag-
weite erkannt. Aber sie befand sich bis zum Ende des 19. Jahr-
1 Auch hier hat es nicht an übertriebener Skepsis gefehlt, die jedes
Rechts verfahren leugnen wollte. Vgl. K. Norgate, The allegued condem-
nation of King John by the Court of France in 1202, Transactions of the
Royal Hist. Society 1900, p. 53ss. Beste Widerlegung von Petit-Dutaillis
in den Etudes et Notes additioneiles zur französischen Ausgabe von Stubbs
Histoire Constitutionelle de l’Angleterre, Paris 1907, p. 863s. (eine engl.
Rückübers. von O. E. Riiodes, Manchester 1911, p. 107).
Heinrich Mitteis:
Existenz wenigstens ist sichergestellt1, nicht aber auch das Er-
gebnis (s. unten S. 96). Die eigentliche Kernfrage des Problems
liegt aber anders: hat, so steht der Streit, neben dem lehnrecht-
lichen noch ein zweites ,, 1 and rechtliches“, d. h. rein
strafrechtlich orientiertesVerfahren stattgefunden?
Sind Johann bloß wegen gewisser lehnrechtlicher Vertragsver-
letzungen seine Lehen aberkannt oder ist er außerdem wegen
der Ermordung seines Neffen Arthur geächtet oder gar zum
Tode verurteilt worden? In beiden Fällen könnte es sich, wie
noch gezeigt werden wird, nur um Versäumnisurteile gehandelt
haben. Von dem lehnrechtlichen Verfahren werden wir einiger-
maßen genügend durch zeitgenössische Chroniken unterrichtet;
von dem strafrechtlichen erfahren wir erst viel später etwas, aus
diplomatischen Verhandlungen nämlich, die 1216 zwischen kö-
niglichen und päpstlichen Gesandten in Frankreich, sowie mit
dem Papste selbst gepflogen wurden. Im letzterwähnten Falle
könnte es sich nur darum gehandelt haben, die Erbunwürdigkeit
Johanns und seiner Nachkommenschaft zu begründen und somit
die Thronfolge des französischen Königssohns, Ludwigs VIII., in
England zu sichern (s. unten S. 107). Daher die Beschuldigung
eines gemeinen Verbrechens und der Verurteilung deswegen.
Wäre dem so — das sei vorausgeschickt —, so hätten wir
in diesem höchst charakteristischen Punkte der Kumulation zweier
Prozesse, deren jeder einen ganz verschiedenen prozessualen Typ
repräsentiert, eine vollkommene Parallele zu den Verfahren gegen
Heinrich den Löwen. Aber diese Erwägung, so sehr sie dem Wunsche
nach Harmonie entgegenkommt, darf nicht zur petitio principii
werden. Erst die objektive Prüfung des Tatbestandes kann ergeben,
ob die Analogie wirklich zutrifft. Dabei sind die Ergebnisse der
älteren, insbesondere französischen und englischen Geschichts-
schreibung zu verwerten. Diese hat nun längst die Tatsache des
Lehnsverlustes Johanns in ihrer verfassungsgeschichtlichen Trag-
weite erkannt. Aber sie befand sich bis zum Ende des 19. Jahr-
1 Auch hier hat es nicht an übertriebener Skepsis gefehlt, die jedes
Rechts verfahren leugnen wollte. Vgl. K. Norgate, The allegued condem-
nation of King John by the Court of France in 1202, Transactions of the
Royal Hist. Society 1900, p. 53ss. Beste Widerlegung von Petit-Dutaillis
in den Etudes et Notes additioneiles zur französischen Ausgabe von Stubbs
Histoire Constitutionelle de l’Angleterre, Paris 1907, p. 863s. (eine engl.
Rückübers. von O. E. Riiodes, Manchester 1911, p. 107).