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Gerhard Ritter:
publizierten Stücke weisen unter sich recht verschiedene Stilarten
auf. Daß der Anonymus sich gelegentlich als „zur Gemeinde ge-
hörigen Laien“ gibt, kann bloße literarische Kunstform oder auch
bloße Unachtsamkeit des Eiferers sein. Noch weniger besagt die
Tatsache, daß man Wesel im Ketzerprozeß über diese Schrift nicht
eigens — wie über den Ablaßtraktat — verhört habe. Tatsächlich
hat man ihm (Punkt 3) das Geständnis abgenötigt, daß er Verfasser
eines Traktats „super modo obligationis legum humanarumu und
eines weiteren „de potestate ecclesiastica“ sei: beide Titel würden
auf den Inhalt des hier verhandelten Traktats vortrefflich passen.
Und die Meinung Clemens, daß unter den im Verhör behandelten
articuli keiner dem anonymen opusculum entnommen sein könnte,
haben wir soeben implicite widerlegt.
Aber es gibt andere Gegengründe. Vor allem: die soeben auf-
gezeigten Parallelen reichen doch nicht hin, um zwingend die
Verfasserschaft Wesels zu beweisen. Zitate, Motive, Oppositions-
gedanken, die damals alle gewissermaßen in der Luft lagen, in
jedem Opposi.tionstraktat wiederkehren •— mehr ist es nicht. Das
eigentlich charakteristische Merkmal aber des anonymen Traktats:
die leidenschaftliche Erbitterung gegen den fetten, reichen, stolzen,
geistlich trägen Klerus, den zu beschimpfen kein Ausdruck zu arg
ist (so wird der Papst S. 140 eine simia purpurata genannt — ein
Beispiel für viele andere! —) finden wir bei Wesel eben nicht. Selbst
in den paradoxa (wenn wir die als wörtlich echt betrachten dürfen)
hält sinh seine Kritik doch immer in der Richtung eines halb juri-
stischen, halb theologischen Denkens: nicht durch Verunglimpfung,
Herabwürdigung der Hierarchie, sondern ausschließlich durch Be-
streitung ihrer Machtbefugnisse sucht er zu wirken; weniger gegen
den Lebenswandel des Klerus, als gegen die Fundamente seiner
Machtstellung im jus divinum richtet sich sein Angriff. Der Ano-
nymus gerade umgekehrt: dem ist die theologische und Rechts-
frage nur der erste Anlaß, das „Thema“ für eine Büßpredigt, die
ihm Gelegenheit zu moralischem Eifer und Gefühlsausbrüchen gibt.
Sein Vorgehen würde bei einem Schultheologen und angesehenen
Domgeistlichen in der Tat überraschen; es erinnert viel stärker an
die Volkspredigt der Loliharden — das Ideal der franziskanischen
Observanten vom „armen Klerus“ steckt letzten Endes dahinter,
wie allein schon die Empfehlung des christlichen Kommunismus
beweist; und so fehlt es denn auch nicht an scharf polemischer
Wendung gegen den Hochmut der Universitätstheologen: die An-
Gerhard Ritter:
publizierten Stücke weisen unter sich recht verschiedene Stilarten
auf. Daß der Anonymus sich gelegentlich als „zur Gemeinde ge-
hörigen Laien“ gibt, kann bloße literarische Kunstform oder auch
bloße Unachtsamkeit des Eiferers sein. Noch weniger besagt die
Tatsache, daß man Wesel im Ketzerprozeß über diese Schrift nicht
eigens — wie über den Ablaßtraktat — verhört habe. Tatsächlich
hat man ihm (Punkt 3) das Geständnis abgenötigt, daß er Verfasser
eines Traktats „super modo obligationis legum humanarumu und
eines weiteren „de potestate ecclesiastica“ sei: beide Titel würden
auf den Inhalt des hier verhandelten Traktats vortrefflich passen.
Und die Meinung Clemens, daß unter den im Verhör behandelten
articuli keiner dem anonymen opusculum entnommen sein könnte,
haben wir soeben implicite widerlegt.
Aber es gibt andere Gegengründe. Vor allem: die soeben auf-
gezeigten Parallelen reichen doch nicht hin, um zwingend die
Verfasserschaft Wesels zu beweisen. Zitate, Motive, Oppositions-
gedanken, die damals alle gewissermaßen in der Luft lagen, in
jedem Opposi.tionstraktat wiederkehren •— mehr ist es nicht. Das
eigentlich charakteristische Merkmal aber des anonymen Traktats:
die leidenschaftliche Erbitterung gegen den fetten, reichen, stolzen,
geistlich trägen Klerus, den zu beschimpfen kein Ausdruck zu arg
ist (so wird der Papst S. 140 eine simia purpurata genannt — ein
Beispiel für viele andere! —) finden wir bei Wesel eben nicht. Selbst
in den paradoxa (wenn wir die als wörtlich echt betrachten dürfen)
hält sinh seine Kritik doch immer in der Richtung eines halb juri-
stischen, halb theologischen Denkens: nicht durch Verunglimpfung,
Herabwürdigung der Hierarchie, sondern ausschließlich durch Be-
streitung ihrer Machtbefugnisse sucht er zu wirken; weniger gegen
den Lebenswandel des Klerus, als gegen die Fundamente seiner
Machtstellung im jus divinum richtet sich sein Angriff. Der Ano-
nymus gerade umgekehrt: dem ist die theologische und Rechts-
frage nur der erste Anlaß, das „Thema“ für eine Büßpredigt, die
ihm Gelegenheit zu moralischem Eifer und Gefühlsausbrüchen gibt.
Sein Vorgehen würde bei einem Schultheologen und angesehenen
Domgeistlichen in der Tat überraschen; es erinnert viel stärker an
die Volkspredigt der Loliharden — das Ideal der franziskanischen
Observanten vom „armen Klerus“ steckt letzten Endes dahinter,
wie allein schon die Empfehlung des christlichen Kommunismus
beweist; und so fehlt es denn auch nicht an scharf polemischer
Wendung gegen den Hochmut der Universitätstheologen: die An-