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Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1931/32, 4. Abhandlung): Jungfrauensohn und Krippenkind: Untersuchungen zur Geburtsgeschichte Jesu im Lukas-Evangelium — Heidelberg, 1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.40162#0016
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16

Martin Dibelius:

zeichnend für die Gesamtkomposition des Evangelisten ist: das
Lied auf den Täufer singt sein Vater, das Lied auf Jesus dessen
Mutter. Denn sachlich ist gegen den Text der griechischen Hand-
schriften, der dieses Lied der Maria zuschreibt (καί εΖπεν Μαριάμ
1, 46), nichts einzuwenden: Elisabeth grüßt die Maria, und Maria
muß darauf antworten; sie tut es mit dem eschatologischen Hym-
nus des Magnificat1, in den der Erzähler den einzigen auf die Situa-
tion bezüglichen Vers 1, 48 eingeschoben hat: ,,Denn er hat den
niedrigen Stand seiner Magd (ταπείνωσές, d. h. seine Magd in ihrem
niedrigen Stand) angesehen“ usw. Wenn eine stark überschätzte
lateinische Lesart den Hymnus der Elisabeth zuschreibt, so scheint
mir das begreifliche Korrektur zu sein. Man verstand dann die
Niedrigkeit wie I. Sam. 1, 11, wo derselbe Ausdruck steht: von der
Schmach der Kinderlosigkeit. Das ist aber kein Grund, der die
stilistische Erwägung widerlegt, nach der Maria, und nicht Elisa-
beth, hier eine Antwort geben muß2.
Die ganze, nun auf Lukas zurückgeführte Szene bildet aber
für den Evangelisten auch einen wertvollen Übergang zur Geburts-
geschichte Jesu. Denn die Verkündigungsszene verhieß die Emp-
fängnis, und stellte sie nicht dar. Indem der Evangelist Maria als
werdende Mutter vorführt, hat er auf zarte und verhüllende Weise
angedeutet, daß das Wunder inzwischen geschehen ist: Maria hat
empfangen.
Die ursprüngliche, isolierte, in sich selbst ruhende Verkündi-
gungsgeschichte bedarf solcher Fortsetzung nicht. Ihr Wortlaut —
nach Möglichkeit von den Zutaten des Evangelisten befreit —
möge das verdeutlichen:
,,Da ward der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt Gali-
läas mit Namen Nazareth gesandt zu einer Jungfrau aus dem
Hause David; die hieß Maria. Und er trat bei ihr ein und
sprach: Heil dir, Begnadete, der Herr sei mit dir! Sie aber
ward bestürzt ob solcher Rede und dachte bei sich: welcher
Gruß ist das ? Da sprach der Engel zu ihr: Fürchte dich nicht,
Maria, denn du hast Gnade gefunden bei Gott. Und siehe,
dein Leib wird empfangen; du sollst einen Sohn gebären
und ihn mit Namen Jesus nennen.
1 Den Charakter der beiden Hymnen hat Gukkel, Festgabe für Harnack,
1921, 43—60 wohl endgültig bestimmt.
2 Vgl. meine Bemerkungen Theol. Rundschau 1931, 223 Anna. Ebenso
urteilt Radermacher, Archiv f. Religionswissensch., 1930, 391'.
 
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