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Dibelius, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1931/32, 4. Abhandlung): Jungfrauensohn und Krippenkind: Untersuchungen zur Geburtsgeschichte Jesu im Lukas-Evangelium — Heidelberg, 1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.40162#0062
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Martin Dibelius:

deutig, nicht überhaupt einmalig zu sein. Auch die beiden anderen
vergleichbaren Zeichen in den Evangelien, das Eselsfüllen Mk. 11, 2
und der Wasserträger Mk. 14, 13 haben nicht den Charakter aus-
schließlicher Einmaligkeit. Man darf aber im Sinn der Legende
gar nicht erwägen, ob ein Futtertrog an der Wand oder auf dem
Boden eine geeignete Lagerstätte für einen Säugling ist, denn ein
göttliches Zeichen steht jenseits solcher praktischen Zwecke; die
Legende will etwas Außerordentliches berichten, nicht aber ein
Vorbild für Säuglingspflege geben1.
VIII.
Das Kind in der Krippe ■— das ist das Zeichen, daran die
Hirten die Zuverlässigkeit der Engelsbotschaft erkennen können.
Sie suchen nach ihm, und suchen, wie wir vermuten dürfen, zuerst
in dem Haus, das ihnen und ihren Tieren zum Aufenthalt dient.
Unter welchen Umständen Josef und Maria gerade dort Unter-
kunft gefunden haben, wissen wir nicht; vielleicht berichtete die
verlorene Einleitung der Legende, daß sie das Haus benützten,
weil seine Bewohner auswärts weilten. Das Zeichen wird den Hirten
kundgetan mit den Worten βρέφος έσπαργανωμένον καί κείμενον
έν φάτνη. Das Kind soll, wie jeder andere Säugling, mit Wickel-
bändern in Lappen eingewickelt daliegen2. Die Versorgung des
Neugeborenen ist ein Beweis dafür, daß er familiäre Pflege nicht
entbehrt. Diese Bedeutung des Motivs läßt sich gut an einer alt-
testamentlichen Stelle veranschaulichen. Ezechiel 16 hat der Pro-
phet die Geschichte eines Findelkindes als Gleichnis für das Schicksal
des jüdischen Volkes benutzt. Um das Los eines solchen Kindes
zu schildern, sagt er, das Mädchen sei am Tage seiner Geburt weder
mit Salz abgerieben noch in Windeln gewickelt worden (Ez. 16, 4).
Gerade das Gegenteil wird von dem Krippenkind der Weihnachts-
geschichte berichtet: es ist „gewickelt“ worden wie ein anderes.
Aber freilich — es liegt in der Krippe! Man spürt den latenten
Gegensatz zwischen έσπαργανωμένον und κείμενον έν φάτνη; er ist
so deutlich, daß er wohl auf Absicht beruht. Der Erzähler will
beides hervorheben: daß das Kind versorgt ist und daß es am un-
geeigneten Ort liegt. Damit ist das Außerordentliche vom Regel-
1 Diese Ausführungen richten sich gegen Born Häuser, Die Geburts-
und Kindheitsgeschichte Jesu 102f.
2 Das Wickeln und das Umschnüren der Kinder mit den Wickelbändern
dient vor allem dem Zweck, ihre Glieder gerade zu halten. Vgl. Dalman,
Orte und Wege Jesu3 45.
 
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