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Schadewaldt, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 3. Abhandlung): Die Niobe des Aischylos — Heidelberg, 1934

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https://doi.org/10.11588/diglit.40168#0029
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Die Niobe des Aischylos

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erst in der Tragödie konnte es in seiner tiefsten Bedeutung fühlbar
und gestaltbar werden. Erst hier, wo leibhaft gehandelt und in
einem Zuge gesungen und gesprochen wird, kann es ein unmittelbar
'redendes5 Schweigen geben, ein Schweigen, das der Zuschauer
eigentlich 'hört5. So hat Aischylos im Prometheus das Schweigen
des 'in sich gekehrten5 Grams, der 'am Herzen frißt5 gestaltet (4=34ff.),
in den Persern das Schweigen der würgenden Beklommenheit, wo
der Schreck die Zunge 'übermannt5 (290ff.), im Agamemnon die
wilde Benommenheit und nach innen horchende Verschlossenheit
der Seherin (1035ff.). Die späteren Tragiker haben dies Schweigen
dem Aischylos mit verschiedener Wirkung nachgebildet, und bei
Euripides ist es teils ein technisches Mittel teils ein bewußter Effekt
geworden* 1. Bei Aischylos fließt es aus den Tiefen der neuen inneren
(Furcht, Selbstbeherrschung). Od. 17, 465 Odysseus von Antinoos mit dem
Schemel getroffen: Schweigen der tiefsten Erbitterung, Rachegedanken. Od. 1,
360 Penelope geht staunend über die Rede des Telemach ins Gemach und
bedenkt sein kluges Wort im Herzen. Das Schweigen nicht ausdrücklich be-
zeichnet, aber vom Dichter beabsichtigt: Schweigen des Staunens, des Nach-
denkens. — Am bedeutsamsten schweigt Zeus II. 1, 512 auf die Bitte der
Thetis; Thetis muß nochmals bitten, ehe er antwortet. Es ist das Schweigen
der verantwortungsbewußten Überlegung vor einer großen Entscheidung, Der
Ilias-Dichter hat mit diesem Schweigen wie dann mit dem gewaltigen Zunicken,
das den Olymp erzittern läßt, den packenden Augenblick markiert, in dem die
ganze Iliashandlung sich entscheidet — eine große griffsichere und weit-
blickende Kunst. — Es ist für Homers tiefe, allem Analytischen ferne "Psy-
chologie5 bezeichnend, daß die im Schweigen wirkende Stimmung zumeist
vieldeutig wogend und umfassend ist. Die antiken Erklärer, die mehrfach
auf das Schweigen aufmerksam geworden sind, deuten es zu einseitig: z. B.
Eust. 1940, 64 (πένθος, θαυμασμός), Schol. Aisch. Prom. 436 σιωπώσι γάρ
παρά ποιηταϊς τά πρόσωπα ή δι’ αυθάδειαν, ώς Άχιλλεύς έν τοΐς Φρυξι Σοφο-
κλέους (gemeint wohl Αισχύλου Hermann), ή διά συμφοράν, ώς ή Νιόβη παρ’
Αίσχύλω, ή διά περίσκεψιν, ώς ό Ζευς παρά τω ποιητή προς τήν τής Θέτιδος
αϊτησιν. — Eine neue Aufmerksamkeit nach innen hat die Lyrik gebracht:
Sappho 2 zählt die Momente ihres Pathos einzeln auf, das Schweigen, ein
Nicht sprechen können, ist dabei ganz von innen gefaßt: die Stimme stellt
sich nicht ein, die Zunge ist gebrochen (7ff.).
1 Monolog und Selbstgespräch 55 Anm. 3. Ich erinnere für Sophokles
noch an das Schweigen des Oidipus OKol. 1271—1348ff., ein furchtbares
Nicht-Antwortgeben. Phil. 805. 951. Ant. 1244. Im Oidipus Tyr. ist nach dem
Schrei mit dem Iokaste hinausläuft, kurz vor dem Ende des Aktes ein langes
beklommenes Schweigen anzunehmen (Wort des Chors 1074f.), das Oidipus
dann gewaltsam durchbricht. Bei Eur. Hipp. 288ff. (bes. 296f. 300) ist das
Schweigen der Phaidra nur rätselhafte letharge Starrheit; die zungenfertigen
Überredungskünste der Amme spannen darauf, was wohl hinter diesem
Schweigen stecken mag.
 
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