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Josef Koch Cusanus-Texte: I. Predigten 2/5.
dem König zwei Adoptivtöchter (ursprünglich: zwei Töchter) ge-
raubt und entführt worden. Während nun die ältere ungläubig
bleibt, läßt sich die jüngere von der Botschaft des Königssohnes
überzeugen und entbrennt in inniger Liebe zu ihm; in seinem
Grimm entstellt jener Betrüger das Mädchen und reißt ihm ein
Auge aus. Der Königssohn überwindet den Jammer dadurch, daß
er sich auch einäugig macht.
Nun ist aber noch eine andere Quelle von Nicolaus benutzt
worden, nämlich eine Erzählung in dem auch sonst von ihm zitierten
„Führer der Unschlüssigen“ des Moses Maimonides. Im zweiten
Buch* 1 erörtert er den Satz, daß man von der Beschaffenheit eines
Wesens im fertigen Zustand nicht auf die während seines Werdens
schließen kann. Wer einen solchen Schluß zieht, kommt in die
größten Zweifel und hält notwendige Dinge für unmöglich und un-
mögliche für notwendig. Zur Erläuterung seiner Meinung bildet er
das Beispiel von einem Menschen, der auf einer weltabgelegenen
Insel geboren wird und seine Mutter nach wenigen Monaten ver-
liert. Da er auch nie ein tierisches Weibchen zu Gesicht bekommt,
weiß er auch als Erwachsener nichts von der Entstehung des Men-
schen; wenn man ihm nun sagt, er habe neun Monate im Schoß
seiner Mutter verbracht, so wird er alle möglichen Vernunftgründe
dagegen Vorbringen. Wer mit Aristoteles, so lautet die Nutz-
anwendung, lieber an der Ewigkeit der Welt festhält, statt an ihre
Erschaffung aus nichts zu glauben, weil ihm diese vernunftwidrig
scheint, der gleicht jenem Inselmenschen.
Aus diesen beiden so gegensätzlichen Erzählungen — die eine
gemütvoll, schlicht und ergreifend, die andere zum Zweck philo-
sophischer Belehrung klug ausgedacht und ganz prosaisch — hat
Nicolaus seine Karfreitagserzählung gestaltet. Wenn sie auch das
Hauptmotiv der Mär Eckharts verdankt, so entfernt sie sich doch
von ihr hinsichtlich der Form: Nicolaus’ Erzählung ist eine
in allen Einzelheiten wohl überlegte Allegorie, die mehr den Theo-
valde doluit et non cessavit gemere et plorare, et quamvis filius consolaretur
eam, tamen ipsa respondit se non posse concipere, quod ipse eam posset amare,
quia turpis facta esset. Filius autem non volens quod ipsa tantum se tor-
queret, cogitavit quomodo consolaretur eam, et non reperit modum nisi quod
se eciam monoculum faceret.“ Weiterhin stimmen die Fassungen überein.
1 Vgl. Dux neutrorum (hrsg. von A. Iustinianus, Paris 1520) II c. 18,
f. 49r. Cusanus verwertet diese Erzählung auch in den Predigten „Dicite filiae
Sion“ (Vx 79va; p 47v; Palmsonntag 21. 3. 1445) und ,,Cum clamore magno“
(Vx 70va; p 43v; Karfreitag 26. 3. 1445).
Josef Koch Cusanus-Texte: I. Predigten 2/5.
dem König zwei Adoptivtöchter (ursprünglich: zwei Töchter) ge-
raubt und entführt worden. Während nun die ältere ungläubig
bleibt, läßt sich die jüngere von der Botschaft des Königssohnes
überzeugen und entbrennt in inniger Liebe zu ihm; in seinem
Grimm entstellt jener Betrüger das Mädchen und reißt ihm ein
Auge aus. Der Königssohn überwindet den Jammer dadurch, daß
er sich auch einäugig macht.
Nun ist aber noch eine andere Quelle von Nicolaus benutzt
worden, nämlich eine Erzählung in dem auch sonst von ihm zitierten
„Führer der Unschlüssigen“ des Moses Maimonides. Im zweiten
Buch* 1 erörtert er den Satz, daß man von der Beschaffenheit eines
Wesens im fertigen Zustand nicht auf die während seines Werdens
schließen kann. Wer einen solchen Schluß zieht, kommt in die
größten Zweifel und hält notwendige Dinge für unmöglich und un-
mögliche für notwendig. Zur Erläuterung seiner Meinung bildet er
das Beispiel von einem Menschen, der auf einer weltabgelegenen
Insel geboren wird und seine Mutter nach wenigen Monaten ver-
liert. Da er auch nie ein tierisches Weibchen zu Gesicht bekommt,
weiß er auch als Erwachsener nichts von der Entstehung des Men-
schen; wenn man ihm nun sagt, er habe neun Monate im Schoß
seiner Mutter verbracht, so wird er alle möglichen Vernunftgründe
dagegen Vorbringen. Wer mit Aristoteles, so lautet die Nutz-
anwendung, lieber an der Ewigkeit der Welt festhält, statt an ihre
Erschaffung aus nichts zu glauben, weil ihm diese vernunftwidrig
scheint, der gleicht jenem Inselmenschen.
Aus diesen beiden so gegensätzlichen Erzählungen — die eine
gemütvoll, schlicht und ergreifend, die andere zum Zweck philo-
sophischer Belehrung klug ausgedacht und ganz prosaisch — hat
Nicolaus seine Karfreitagserzählung gestaltet. Wenn sie auch das
Hauptmotiv der Mär Eckharts verdankt, so entfernt sie sich doch
von ihr hinsichtlich der Form: Nicolaus’ Erzählung ist eine
in allen Einzelheiten wohl überlegte Allegorie, die mehr den Theo-
valde doluit et non cessavit gemere et plorare, et quamvis filius consolaretur
eam, tamen ipsa respondit se non posse concipere, quod ipse eam posset amare,
quia turpis facta esset. Filius autem non volens quod ipsa tantum se tor-
queret, cogitavit quomodo consolaretur eam, et non reperit modum nisi quod
se eciam monoculum faceret.“ Weiterhin stimmen die Fassungen überein.
1 Vgl. Dux neutrorum (hrsg. von A. Iustinianus, Paris 1520) II c. 18,
f. 49r. Cusanus verwertet diese Erzählung auch in den Predigten „Dicite filiae
Sion“ (Vx 79va; p 47v; Palmsonntag 21. 3. 1445) und ,,Cum clamore magno“
(Vx 70va; p 43v; Karfreitag 26. 3. 1445).