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Henrich, Dieter; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 1. Abhandlung): Identität und Objektivität: eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion ; vorgetragen am 9. November 1974 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45458#0087
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Identität und Objektivität

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deshalb numerisch identisch genannt werden, weil sie in Wahrheit
nur ein einziges Objekt sind, das unter verschiedenen Gesichtspunkten
betrachtet wird. Der Anzahl nach verschiedene einzelne Objekte kön-
nen nur ihrer Art oder Gattung nach miteinander identisch sein. Die
numerische Identität ist totale Identität und die Identität, die Einzel-
nes als solches aufweist. «Numero vero idem est, quod de se ipso
affirmari potest, seu quod bis existere repugnat. Dicitur etiam Idem
ipsum» (Wolff, Ontologia § 182).
Identität wird solchem Einzelnen insofern zugesprochen, als in
Beziehung auf es eine Betrachtung stattgefunden hat, welche einer
Vergleichung ähnlich ist. Vergleichen kann man zwar nur, was wirk-
lich verschieden ist. Da aber Verschiedenheit der Gegenbegriff zur
Unterschiedslosigkeit ist, und Unterschiedslosigkeit im strengen Sinne
die Bedeutung numerischer Identität ausmacht, kann auch numerische
Identität nur in Beziehung auf etwas behauptet werden, was gleich-
falls auf mögliche Verschiedenheit hin angesprochen werden kann.
Der Wolff-Schüler Baumgarten hat diesen Zusammenhang dadurch
unterstrichen (Metaphysica § 265 ff.), daß er Identität als Relations-
begriff behandelt, und Kant hat ihn vollends sichergestellt, indem er
Identität ebenso wie Verschiedenheit nicht als Begriffe von Objekten,
sondern als Begriffe für die Vergleichung von Objekten auffaßt
(B 319ff.).
Leibniz hatte aus dem Umstand, daß jedem Einzelnen numerische
Identität zugesprochen werden muß, weitreichende und staunen-
erregende Folgerungen gezogen: Ist Identität eine Eigenschaft, die
verschiedene Zustände voraussetzt, und kann weiter ein Einzelnes
(eine Substanz) nur dann Identität aufweisen, wenn es an ihm selbst
in jeder Beziehung und unter jeder Bedingung völlig dasselbe ist,
so scheint zu folgen, daß eine Substanz alle ihre verschiedenen Zu-
stände jederzeit besitzen muß, andernfalls sie nicht eine Substanz,
sondern eine Sequenz verschiedener Substanzen wäre. Daraus läßt sich
dann weiter ableiten, daß Substanzen nur Leibnizische Monaden sein
können: Alle Zustände von Substanzen sind von Beginn an in ihnen
gegenwärtig; sie können weder durch Einfluß von außen in neue Zu-
stände gebracht werden, noch können sie Zustände spontan generieren.
Die einzigen realen Veränderungen in einer Substanz sind Verände-
rungen ihrer Selbstauffassung.
Der Möglichkeitsgrund von Leibniz’ Theorie der Substanz findet
sich also in Leibniz’ theoretischer Operation, die Spannung auszu-
beuten, in die zwei Aspekte der Bedeutung von <Identität> durch die
 
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