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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0015
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Euripides’ Medea

13

Was nun die dramatische Funktion der zitierten Schlußverse des
großen Monologes angeht, so müßten sie in der angegebenen Bedeutung
Medeas definitiven Entschluß markieren, den Mord an den Kindern zu
vollziehen. Eben in dieser communis opinio aber hat mich vor Jahren
mein Stanforder Kollege A. E. Raubitschek wankend gemacht. Weder
aus dem weiteren Fortgang des Stückes, so hat er mir gezeigt, noch aus
der unmittelbaren Reaktion der Mitspieler läßt sich ableiten, daß Medea
am derart pointiert formulierten Ende ihres berühmten Monologes ent-
schlossen ist, die Kinder zu töten. Im Gegenteil: Mir scheint inzwischen,
daß der Monolog, in dessen Verlauf der Entschluß zum Mord mehrfach
gefaßt und wieder verworfen wird, gerade mit dem Bekenntnis Medeas
endet, zu dieser Schreckenstat unfähig zu sein. Ich bin geneigt, die zitier-
ten Verse ganz anders zu übersetzen: Meine Gefühle und Emotionen
(θυμός)17 sind stärker als der Plan (βουλεύματα), die Kinder umzu-
bringen.
Es gibt viele - und wie ich meine durchschlagende - Gründe, die zu
dieser Übersetzung der berühmten Stelle zwingen. Geht man ihnen nach,
wird man auf eine Medea-Gestalt in der euripideischen Tragödie ge-
führt, die mit ihren Schwestern oder Nachfolgerinnen auf der europäi-
schen Bühne weit weniger gemein hat, als es die Tradition uns glauben
machen will.
Einige dieser Gründe seien hier erörtert
1. Θυμός δέ κρείσσων των έμών βουλευμάτων übersetzt man herkömm-
licherweise mit „meine Leidenschaft ist stärker als meine Überlegung“
oder „als mein Verstand“. Βούλευμα, βουλεύματα bedeutet nirgends im
Stück „vernünftige Überlegung“ schlechthin, sondern bezieht sich in
Medeas Mund stets auf den konkreten, ingeniös ersonnenen Plan, ihre
Nebenbuhlerin und die Kinder umzubringen. Darauf machte u. a. Ru-
dolf Kassel schon vor einigen Jahren aufmerksam. Ihre βουλεύματα
erläutert Medea in der Mitte des Stückes dem Chor ganz ausführlich,
und in dem großen Monolog selbst taucht das Wort zweimal zur Be-
zeichnung des Racheplanes auf. Es wäre höchst verwirrend für den Zu-
schauer, würde es ausgerechnet im epigrammatisch zugespitzten Schluß
des Monologes eine ganz andere Bedeutung erhalten18.
2. Als Medea das erste Mal dem Chor ihren Racheplan mitteilt, gibt
dieser der Hoffnung Ausdruck, daß Medeas eigener θυμός ein solches
Verbrechen nicht zulassen würde. „Du wirst nicht die Kraft haben,
wenn die Kinder flehentlich ihre Arme ausbreiten, die Hand mit ihrem
Blut zu beflecken, noch dein θυμός es zulassen.“ (865)19.
 
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