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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0016
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Albrecht Dihle

3. Der große Monolog beschreibt, wie Medea in qualvollem Ringen
mit sich selbst den Entschluß zum Mord immer wieder faßt und ver-
wirft20. An einer dieser Bruchstellen, unmittelbar nachdem sie sich mit
einem Appell an ihr Ehrgefühl zur Tat aufgerufen hat, wendet sie sich
verzweiflungsvoll an ihren θυμός, der an solchem Tun, auf das die
βουλεύματα gerichtet sind, doch eigentlich gerade nicht mitwirken darf.
Nur so läßt sich ihr Ausruf (1056) verstehen: Μή δήτα, θυμέ, μή συ
γ’ έργάση τάδε ,,Du doch jedenfalls, θυμός, tu solches nicht.“ In der
Abwehr eines θυμός, der sie recht eigentlich zur Tat antreibt, wäre das
einschränkende σύ γε gar nicht verständlich21.
4. Nirgends sagt Medea, daß sie Leidenschaften wie Eifersucht oder
Haß bei ihrem Rache werk leiten. Als einzigen Beweggrund zu ihrem Tun
nennt sie, jedenfalls in der zweiten Hälfte des Stückes - also nachdem
der Plan Gestalt gewonnen hat - wieder und wieder den Wunsch, von
ihren Feinden nicht verlacht zu werden, also ihr klar definiertes und
keineswegs emotional gesteuertes Ehrgefühl. Ganz entsprechend ver-
wendet sie die Worte κακός, κακία, κάκη gerade dort, wo sie davon
redet, daß ihre Gefühle dem zur Wiederherstellung der Ehre notwen-
digen Mordplan widerstreiten und seine Ausführung verhindern. Das
gilt auch für den Schluß des Monologes: καί μανθάνω μέν ota δράν
μέλλω κακά „ich realisiere, wie schimpflich zu verhalten ich mich an-
schicke“ sc. „indem ich den Mordplan zur Wiederherstellung meiner
Ehre nicht ausführe“. Δράν, vor allem mit einem neutralen Objekt wie
κακά oder τάδε, bezeichnet oft gerade nicht das aktive Tun sondern das
Verhalten, das durchaus in Passivität, im Vermeiden der Tat bestehen
kann. Mehrere Beispiele für diesen Sprachgebrauch finden sich auch in
der euripideischen 'Medea’22.
5. Nur ein einziges Mal spricht Medea in den Kategorien der üblichen,
vulgärgriechischen Psychologie davon, daß sie sich von ihrem θυμός,
ihren Leidenschaften, befreit habe und ihr nunmehr friedfertiges Han-
deln von vernünftiger Überlegung werde leiten lassen. Das aber steht in
der Trugrede, mit der sie Unterwerfung und Versöhnung heuchelt, um
den ungetreuen Jason um so sicherer zu treffen2^ Wie das attische Publi-
kum des 5. Jh. denkt offenbar auch Jason in den üblichen psychologi-
schen Kategorien. Wenn Medea, wie man so schön sagt, „zu Verstände
kommt“, wird der ganze Konflikt gegenstandslos. Nur der θυμός mit
seinen irrationalen Handlungsimpulsen bewirkt das Verkehrte, indem
er den Verstand „aus dem Häuschen“ bringt (μετοικίσας)24, wie es im
Fragment einer anonymen, von Plutarch zitierten Tragödie heißt. Offen-
bar aber liegen die Dinge im Fall der Medea nach Euripides’ Meinung
 
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