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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0020
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Albrecht Dihle

als eigenes Unternehmen ins Werk setzte, wird für sie zuletzt unaus-
weichliche Notwendigkeit, gegen die sie sich vergeblich sträubt. Schon
vor dem großen Monolog (1014) macht sie darum die Götter und den
eigenen Verstand für ihr Unglück verantwortlich, nicht das Übermaß
ihrer Leidenschaft. Ganz entsprechend appelliert sie am Anfang der
Rachehandlung an die eigene Erfindungsgabe (401 f.)32. Der große Mono-
log ist weit mehr als ein retardierendes Moment im äußeren Ablauf des
Geschehens. Er bezeichnet den Höhepunkt eines inneren Geschehens,
das von der in anderem Rhythmus ablaufenden äußeren Handlung über-
holt wird. Als Medea bekennt, zur Tat nicht fähig zu sein, ist sie bereits
durch den eigenen Plan zur Tat verurteilt.
Man hat schon früher beobachtet, daß Euripides das Motiv der
Zauberkunst Medeas auf das vom Mythos unumgänglich geforderte
Mindestmaß reduziert. Aus Zauberkunst wird bei Euripides überra-
gende, im Planen und Handeln bewährte Intelligenz33. Bezeichnender-
weise haben so gut wie alle Nachfolger des Euripides das magische Ele-
ment wieder in den Vordergrund gerückt, weil es mit dem Motiv einer
alles überschwemmenden Leidenschaft der Heldin leichter zu vereinen
ist. Das Wissen, mit dem Zauberkunst erworben und angewandt wird,
ist der Prototyp des rein operationalen, von der Einsicht in die morali-
schen Pflichten und von der intellektuellen Kontrolle der Emotionen
ganz und gar unabhängigen Wissens. Zauberkunst wird ohne den morali-
schen Verstand erworben und von unkontrollierter Leidenschaft auf den
Plan gerufen, wie es zahllose Hexen- oder Zauberszenen in der antiken
und nachantiken Literatur beschreiben34.
Noch in einem anderen Detail, das die Transformation der Medea-
Tragödie in ein Drama der Leidenschaft anzeigt, unterscheiden sich viele
Nachfolger des Euripides von ihrem Vorbild, an der Spitze Neophron
im 4. Jh. v. C. und Seneca im 1. Jh. n. C. Wenn Medea aus Leidenschaft
gegen die Stimme der mahnenden Vernunft tötet, muß die Tat auf dem
Höhepunkt solcher Leidenschaft geschehen. Der aber kann recht wohl
in einem Monolog deutlich werden, in dem sich die Leidenschaft gegen-
über der Vernunft durchsetzt. Alle nacheuripideischen Dichter, die Me-
dea einen derartigen Monolog halten lassen35, legen ihn unmittelbar vor
die Tat und unterscheiden sich darin von Euripides, obwohl alle diese
Monologe nicht ohne das euripideische Vorbild denkbar sind. Aber die
Funktion des Monologs ist eine andere geworden: Bei Euripides scheinen
Gefühle und Emotionen der Mutter die Ausführung des Planes zu ver-
hindern, mit dem ein unerbittlicher Kalkül der Vergeltungsforderung
eines Ehrenkodex Genüge zu tun sucht. Bei den Späteren verdeutlicht
 
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