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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0022
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Albrecht Dihle

test, indem Du meine Ehe schändetest, ein schönes neues Leben beginnen
und dabei meiner spotten! Und als der verzweifelte Jason ihr entgegnet,
durch ihre Tat seien sie doch nun beide im Leid um die Kinder vereint,
antwortet sie mit schneidender Schärfe: Meinen Schmerz lindert es,
wenn du mich nicht mehr verlachen kannst (1362).
Der Vergeltungsforderung zu genügen, ihre Rache durchzuführen,
bedarf Medea ihres Verstandes, gegen den sich deshalb ihre stärksten
Gefühle wenden, die eine Mitwirkung an einer solchen Rache verwei-
gern, nachdem der Plan Gestalt gewonnen hat und der erste Schritt zu
seiner Durchführung getan ist. Daß es dann trotz des Widerstrebens der
Gefühle zur Katastrophe des Kindermordes kommt, liegt eben nicht am
Durchbruch elementarer Leidenschaft, sondern an der unausweichlichen
Konsequenz des ingeniösen Planes.
Auch mit der aristotelischen Unterscheidung zwischen der Intelligenz,
die Taten unabhängig von ihrem sittlichen Wert plant und durchführt,
von jener, welche die Emotionen unter Kontrolle hält und damit die Sitt-
lichkeit des Tuns bestimmt, geht im Fall der euripideischen Medea die
Rechnung nicht auf, nach der die Intelligenz das Gute, die unkontrollier-
ten Emotionen das Schlimme bewirken müssen. Der Intellekt, mit dem
Medea ihr Rachewerk so meisterhaft plant und durchführt, kontrolliert
und unterdrückt gerade die Emotionen, welche die Schreckenstat ver-
hindern können. Aristoteles selbst hebt denn auch die Vorsätzlichkeit,
nicht die Leidenschaftlichkeit am Tun der Medea hervor (Poet. 1453
b 28ff.)39.
Gelegentlich gab es in der Antike ausdrückliche Zweifel daran, ob
denn alles Unheil in der ‘Medea’ des Euripides allein auf die Leidenschaft
der Heldin zurückzuführen sei. So verweist Cicero darauf, daß Medea
ihre Untat doch recht gründlich mit der Vernunft, der göttlichen Kraft
der menschlichen Seele, geplant habe, und Epiktet, der hier orthodox-
stoischer Psychologie folgt, erinnert daran, daß Medea ihren Entschluß
zur Tat im Rahmen der ihr gegebenen Erkenntnismöglichkeiten mit dem
Verstände gefaßt habe40.
Schon wenige Jahre nach der Aufführung der euripideischen 'Medea
parodierte Aristophanes in den 'Archarnern’ den großen Monolog41.
Er hatte ganz klar erkannt, wie es für Medea darum geht, ihre widerstre-
benden Gefühle dem zuvor von ihr ersonnenen Plan gefügig zu machen.
Entsprechend appelliert Dikaiopolis, der komische Held des Stückes,
wiederholt an θυμός und καρδία, ihn bei seinem gefährlichen und inge-
niös ersonnenen Vorhaben nicht im Stich zu lassen42.
 
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