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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0031
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Euripides’ Medea · Anmerkungen

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leidet aber auch die intellektuelle Qualität der Planung, wie sich in der Rede 364 ff.
zeigt. Dann aber verrät der im weiteren Verlauf des Stückes entworfene und durch-
geführte Plan, daß der Verstand völlige Dominanz gewonnen hat. Er kontrolliert
die Emotionen nunmehr gerade in dem Sinn, daß gegen ihren Widerstand das grau-
sige Werk planmäßig zu Ende geführt wird, die moralisch unbezweifelbar negativ
zu bewertende Tat also geschieht. Die bei Aristoteles eindeutige Bewertung der
Rollen von Verstand und Emotion beim Zustandekommen einer Handlung, die
moralischem Urteil unterliegt, gibt es in der 'Medea’ demnach nicht.
Wieder andere suchen die Schwierigkeit zu umgehen, indem sie den Seelen-
kampf Medeas nicht als Konflikt zwischen Vernunft und Leidenschaft, sondern als
Auseinandersetzung zwischen den Leidenschaften der Mutterliebe und der Rach-
sucht interpretieren (H. D. Voigtländer, Philol. 101, 1957, 229), auch wohl zwi-
schen Medeas Mutterliebe und der erkannten Notwendigkeit, Rache zu üben (B.
Meißner, Herrn. 96, 1968, 155-166, der sich hierbei mit gutem Recht auf Med.
1236-1250 bezieht und die Frage offen läßt, wie weit man daran auch bei der Inter-
pretation des großen Monologes zu denken habe).
Auch Anne Burnett, die in einem sehr instruktiven Artikel (CI. Phil. 68, 1973,
1-24) die ‘Medea’ in die Geschichte der Rachedramen einordnet, wendet sich
gegen die Deutung des inneren Konfliktes der Medea als eines Streites zwischen
reason und passion, wie es Snell oder Schadewaldt (Monolog und Selbstgespräch,
Berlin 1926, 198) erläutern. “The dialogue is held between a part of herseif called
θυμός (1056, 1079), or sometimes καρδία (1042; 1242), and another part that is
μήτηρ (1038; cf. 1247). Psychologically speaking it is a struggle between her mas-
culine, honor-oriented seif and her feminine, hearth-oriented seif.” Anne Burnett
hat richtig gesehen, daß der eine Teil Medeas an einem männlichen Kriegerideal
orientiert ist. Aber wie kann es zugehen, daß Euripides das andere, das hearth-
oriented seif, das die Verfasserin ausdrücklich als animalisch-unreflektierten
Muttertrieb beschreibt, ausgerechnet mit dem Wort βουλεύματα bezeichnet und
dem θυμός, den die Verfasserin richtig als Synonym zu καρδία versteht, entgegen-
setzt? Βουλεύματα sind rational konzipierte Pläne, in der 'Medea’ im Munde der
Heldin stets, mit Ausnahme ihrer Trugrede, der Racheplan, der die Tötung der
Kinder einschließt. Die zugespitzte Formulierung des Verses 1079 aber verlangt
eine eindeutige und unmißverständliche Bezeichnung der beiden einander ent-
gegengesetzten Faktoren.
Für Gerhard Müller (Stud. It. N. S. 25, 1951, 65-82) gehört die Einsicht in die
Bedeutung des Wortes βουλεύματα im Rahmen der 'Medea’ zu den Argumenten,
die Verse 1056-1080 des großen Monologes zu athetieren (73). Steidle, der diese
Radikalkur ablehnt (Studien zum antiken Drama 152/168) muß sich einerseits
dagegen verwahren, aus dem Wort θυμός in 1079 einen Hinweis auf Medeas Mut-
terliebe zu entnehmen, andererseits zugeben, es sei „schwer vorstellbar, daß 1079
βουλεύματα die dem Racheplan entgegengesetzten Momente bezeichnen soll“
(165).
Alle diese Schwierigkeiten sind behoben, wenn man βουλεύματα in 1079 als das
nimmt, was es im ganzen Stück bedeutet, nämlich den Racheplan. Das damit erfor-
derliche „milde“ Wortverständnis von θυμός (s.o. S. 26) hat Euripides durch
sorgfältigen Gebrauch der verwandten Termini nahegelegt. Daß im Stück viele
Bezeichnungen für Zorn, Haß, Eifersucht u. dgl. vorkommen müssen, liegt auf
der Hand. So ist z. B. sechs Mal von Medeas χόλος die Rede (94; 99; 172; 191;
 
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