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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1977, 5. Abhandlung): Euripides' Medea: vorgetragen am 20. November 1976 — Heidelberg: Winter, 1977

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https://doi.org/10.11588/diglit.45466#0038
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Albrecht Dihle

folgenden Entschlußunfähigkeit, des Mangels an Mut zur Tat, das nicht ganz
häufige Wort κάκη, das bei Euripides sonst noch vier Mal belegt ist. Nach fr. 297
(aus dem 'Bellerophon’) ist κάκη den Menschen angeboren, was sich daran zeigt,
daß eine kleine Untat für eine kleine Bestechungssumme von der allgemeinen
Meinung verurteilt wird, während eine größere τόλμα für hohen Lohn den Täter
von der schlechten Nachrede unabhängig macht. Im 'Hippolytos’ (1335) ver-
sichert Artemis dem Theseus, daß seine Verfehlung, durch die er Hippolytos in
den Tod geschickt hat, wegen seiner Unkenntnis des Zusammenhangs nicht mit
dem Vorwurf der Niedertracht verbunden sei (κάκη).
Orestes tadelt Andr. 967 die κάκη des schwachen Menelaos, der seine Tochter
zuerst ihm als Preis für die Mitwirkung Agamemnons am Zug gegen Troja, und
dann dem Neoptolemos als Lohn für die Einnahme der Stadt versprochen habe,
und in der 'Taurischen Iphigenie’ (676) weist Pylades es von sich, ohne Orest
nach Hellas zurückzukehren und den Ruf der δειλία und κάκη einzuhandeln.
Sowohl in fr. 297 als an der letztgenannten Stelle taucht neben κάκη pointiert
κακός auf. Κάκη enthält also bei Euripides ein allgemeines negatives Urteil über
den moralischen Wert eines Menschen, wobei ein deutlicher Akzent auf dem Vor-
wurf der Schlaffheit und Feigheit liegt. Das beweist die Herkunft des Wortes aus
dem Umkreis des Kriegerideals archaischer Zeit (vgl. Aesch. Sept. 192; 616), und
eben in diesem Sinn wendet es die männlich gesinnte Medea auf sich selbst an.
Genau dieser Verwendung entspricht das μή κακισθής (1246), mit dem Medea
am Ende des Stückes die eigene Hand anredet, um sich unmittelbar vor dem not-
wendig gewordenen Vollzug der Tat gegen alle Weichheit zu wappnen. Ange-
sichts der wieder und wieder betonten Verpflichtung Medeas auf das männliche
Kriegerideal (s.u. S. 42) und des Befundes in der Verwendung der Wörter κακός
und κάκη sollte eigentlich kein Bedenken bestehen, die κακά des Verses 1078 strikt
in moralischem Sinn aufzufassen und gerade nicht als „Schlimmes im Sinn von
Unheil“ (W. Steidle, Studien zum antiken Drama 165). Das Verwerfliche der be-
vorstehenden (δράν μέλλω) Verhaltensweise liegt in Medea’s Augen darin, daß
sie dem Vergeltungsanspruch, den der für sie verbindliche Ehrenkodex vorsieht,
aus mütterlich-weichen Gefühlen keine Genüge verschaffen und sich selbst damit
zum Gespött ihrer Feinde machen wird (vgl. die Wiederholung dieses Motivs in
383; 404; 797; 807ff.; 1049; 1355 und den ebenfalls wiederholten Verweis auf ihre
Abkunft 406; 746; 764; 954; 1321). Triumphierend sagt sie darum in der abschlie-
ßenden Auseinandersetzung mit Jason (1351 ff.):
Μακράν άν έξέτεινα τοΐσδ’ έναντίον
λόγοισιν, εί μή Ζευς πατήρ ήπίστατο,
οΐ’ έξ έμοΰ πέπονθας οίά τ’ είργάσω.
Mit dem Vergeltungsvollzug hat sie die für sie geltende sittliche Forderung erfüllt
und ihre Ehre wiederhergestellt. Aber um welchen Preis! Denn natürlich ist auch
der Mord an den Kindern ein κακόν, sowohl als Unheil wie in der moralischen
Wertung. Aber im Augenblick, da er geschieht, wird er von den Umständen er-
zwungen, ereignen sich δεινά κάναγκαΐα κακά (1243), denn Medea hat zu diesem
Zeitpunkt die Freiheit längst verloren.
Beziehen sich nun aber die κακά, von denen Medea 1078 spricht, auf ihren Ver-
zicht, mit der Tötung der Kinder die Rache zu vollziehen und ihre Ehre zu wahren,
ist mit δράν κακά gerade nicht Tätigkeit, sondern Untätigkeit gemeint. Das ist
 
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