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Eike Wolgast
Um das Widerstandsrecht effektiv handhaben zu können, mußten
zwei Probleme geklärt werden:
1. die Urteilsinstanz im Konflikt zwischen Fürst und Volk (iudex me-
dius);
2. der Kreis derjenigen, die zur Exekution des Urteilsspruchs und da-
mit zur Ausübung von Widerstand berechtigt waren.
Die Lösungen sind unterschiedlich ausgefallen, je nach politischer
Überzeugung und tagespolitischer Konstellation. In der Frage des Ver-
haltens gegenüber dem tyrannus ex defectu tituli bestand allgemeine
Übereinstimmung darin, daß jeder auch ohne besonderes Mandat den
Usurpator bekämpfen durfte, solange dieser nicht auf Grund eines -
wenn auch mit Gewalt erpreßten — Herrschaftsvertrags zum allgemein
anerkannten Herrscher geworden war. Ob der individuelle Widerstand
gegen den Usurpator bis zur formlosen Tyrannentötung gehen durfte,
war dagegen umstritten. Während Johannes von Salisbury schon im 12.
Jahrhundert unter Berufung auf Mt.26,52 ohne jede Differenzierung
festgestellt hatte: „Tyrannum occidere non modo licitum est, sed ae-
quum et iustum. Qui enim gladium accipit, gladio dignus est interire“10,
wurde diese radikale Auffassung im 16. Jahrhundert nicht einmal hin-
sichtlich des tyrannus ex defectu tituli uneingeschränkt vertreten. Aller-
dings blieb das Problem des Widerstands gegen diese Art von Tyrannis
damals auch weitgehend theoretisch - eine Ausnahme bildet die Stel-
lung der Ligisten zu Heinrich IV. nach 158911. Die Schwierigkeiten, ei-
ne Urteilsinstanz zu finden und den Kreis der zum Widerstand Berech-
tigten festzulegen, setzten erst bei der Frage ein, wie einem zum tyran-
nus quoad exercitionem entarteten Herrscher zu begegnen sei.
Die Frage des unparteiischen Richters im Konflikt zwischen Fürst
und Untertanen ist im 16. Jahrhundert zumeist nicht als ein eigenes Pro-
blem anerkannt worden. Nur Luther wies auf die Notwendigkeit einer
übergeordneten Instanz hin, die Widerstand als Rechtshandlung legiti-
mieren konnte, und warnte davor, die Ämter des Richters und des Voll-
10 Policraticus III 15 (ed. Webb I, 232). Johannes von Salisbury fügt hinzu: „Accipere
intelligitur, qui eum [sc. gladium] propria temeritate usurpat, non qui utendi eo accipit
a Domino potestatem“. Zur Wirkungsgeschichte Johannes von Salisburys vgl. W. Ber-
ges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Leipzig 1938), 131ff.
Trotz Ausgaben ca. 1476 (wohl Brüssel) und 1513 (Paris und Lyon) ist der Policrati-
cus in der Widerstandsrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts m. W. kaum zitiert wor-
den. 1595 ist in Leiden eine weitere Ausgabe erschienen; vgl. C. C. I. Webb (Hg.), lo-
annis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici . . . Libri VIII Bd. 1 (London
1909), XVII ff.
11 Vgl. dazu unten S. 48ff.
Eike Wolgast
Um das Widerstandsrecht effektiv handhaben zu können, mußten
zwei Probleme geklärt werden:
1. die Urteilsinstanz im Konflikt zwischen Fürst und Volk (iudex me-
dius);
2. der Kreis derjenigen, die zur Exekution des Urteilsspruchs und da-
mit zur Ausübung von Widerstand berechtigt waren.
Die Lösungen sind unterschiedlich ausgefallen, je nach politischer
Überzeugung und tagespolitischer Konstellation. In der Frage des Ver-
haltens gegenüber dem tyrannus ex defectu tituli bestand allgemeine
Übereinstimmung darin, daß jeder auch ohne besonderes Mandat den
Usurpator bekämpfen durfte, solange dieser nicht auf Grund eines -
wenn auch mit Gewalt erpreßten — Herrschaftsvertrags zum allgemein
anerkannten Herrscher geworden war. Ob der individuelle Widerstand
gegen den Usurpator bis zur formlosen Tyrannentötung gehen durfte,
war dagegen umstritten. Während Johannes von Salisbury schon im 12.
Jahrhundert unter Berufung auf Mt.26,52 ohne jede Differenzierung
festgestellt hatte: „Tyrannum occidere non modo licitum est, sed ae-
quum et iustum. Qui enim gladium accipit, gladio dignus est interire“10,
wurde diese radikale Auffassung im 16. Jahrhundert nicht einmal hin-
sichtlich des tyrannus ex defectu tituli uneingeschränkt vertreten. Aller-
dings blieb das Problem des Widerstands gegen diese Art von Tyrannis
damals auch weitgehend theoretisch - eine Ausnahme bildet die Stel-
lung der Ligisten zu Heinrich IV. nach 158911. Die Schwierigkeiten, ei-
ne Urteilsinstanz zu finden und den Kreis der zum Widerstand Berech-
tigten festzulegen, setzten erst bei der Frage ein, wie einem zum tyran-
nus quoad exercitionem entarteten Herrscher zu begegnen sei.
Die Frage des unparteiischen Richters im Konflikt zwischen Fürst
und Untertanen ist im 16. Jahrhundert zumeist nicht als ein eigenes Pro-
blem anerkannt worden. Nur Luther wies auf die Notwendigkeit einer
übergeordneten Instanz hin, die Widerstand als Rechtshandlung legiti-
mieren konnte, und warnte davor, die Ämter des Richters und des Voll-
10 Policraticus III 15 (ed. Webb I, 232). Johannes von Salisbury fügt hinzu: „Accipere
intelligitur, qui eum [sc. gladium] propria temeritate usurpat, non qui utendi eo accipit
a Domino potestatem“. Zur Wirkungsgeschichte Johannes von Salisburys vgl. W. Ber-
ges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters (Leipzig 1938), 131ff.
Trotz Ausgaben ca. 1476 (wohl Brüssel) und 1513 (Paris und Lyon) ist der Policrati-
cus in der Widerstandsrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts m. W. kaum zitiert wor-
den. 1595 ist in Leiden eine weitere Ausgabe erschienen; vgl. C. C. I. Webb (Hg.), lo-
annis Saresberiensis Episcopi Carnotensis Policratici . . . Libri VIII Bd. 1 (London
1909), XVII ff.
11 Vgl. dazu unten S. 48ff.