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Dihle, Albrecht; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1981, 2. Abhandlung): Der Prolog der "Bacchen" und die antike Überlieferungsphase des Euripides-Textes: vorgetragen am 18. November 1980 — Heidelberg: Winter, 1981

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https://doi.org/10.11588/diglit.47795#0057
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Der Prolog der ‘Bacchen’

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Mutter des Polyneikes und Eteokles, demgegenüber ausdrücklich in die
Zeit nach seiner Blendung und dem Tod der Jokaste, doch kennen wir
seine Quelle nicht (FgrH 16 F 10; dazu de Kock, Acta Classica 5, 1962,
15ff.). Die Rolle der Mutter beim Streit der Brüder und ihre Identität
ist natürlich bedeutsam auch hinsichtlich der Frage, ob Oedipus zu die-
sem Zeitpunkt noch lebt. Homer (xp 679) und das neue chorlyrische
Fragment setzen offenbar voraus, daß Oedipus’ Tod ziemlich bald nach
seiner Katastrophe erfolgte, und auch aus Aischylos’ ‘Sieben’ geht nicht
hervor, daß Oedipus den Zweikampf der Söhne noch erlebte. Anderer-
seits rechnet die bei Peisandros greifbare Tradition offenbar mit sehr
langem Leben des Oedipus, während darüber aus dem kurzen Phereky-
des-Zitat nichts Sicheres zu entnehmen ist. Jedenfalls aber konnte Euri-
pides, wenn er Oedipus und Jokaste den Krieg der Sieben miterleben
ließ, mit großer Wahrscheinlichkeit an entsprechende Überlieferungen
anknüpfen. Auch das Motiv eines gebrochenen ‘Erbvertrages’ zwischen
den Brüdern, das er verwendet, findet sich sowohl in dem chorlyrischen
Fragment als auch in der logographischen Tradition (FgrH 3 F 96).
Wenn also Euripides bei einer Gestaltung der Sage, mit der er sich
vornehmlich gegenüber älteren Tragödien absetzte, auf andere, ältere
Traditionsstücke zurückgreifen konnte, so erhebt sich sogleich die Fra-
ge, in welchem Ausmaß das auch für die Figur der Jokaste zu gelten hat.
Wenn in der besonderen Hervorhebung dieser Gestalt ein Proprium der
euripideischen Bearbeitung des thebanischen Stoffes zu sehen ist - und
dafür sprechen wichtige Partien der Tragödie - dann kommt dieser Fra-
ge besondere Bedeutung zu.
In den wenigen Resten außertragischer Gestaltung der Sage, die auf
uns gekommen sind, bleibt der Name der Mutter des feindlichen Brü-
derpaares entweder ungenannt, oder es ist Oedipus’ zweite Frau mit
Namen Eurygane (Euryganeia). Von ihr als trauernder Mutter der
feindlichen Brüder gab es nach Pausanias’ Zeugnis (9, 5, 11) auch Dar-
stellungen in der bildenden Kunst. Umgekehrt kennen wir keinen tragi-
schen Text und keine auf der Tragödie beruhende Nacherzählung der
Sage, in der es neben bzw. nach Jokaste eine andere Frau des Oedipus
gibt (z. B. Ps. Apoll. Bibi. 2,48ff. und die Erzählung der Sage bei Statius).
Es bedeutet demnach eine keineswegs selbstverständliche Entschei-
dung des Euripides, wenn er sowohl in seine Darstellung des Krieges
der Sieben die Mutter der Oedipussöhne als handelnde Person einbezog
als auch für diese Mutterrolle die Jokaste wählte. Zwar gab es für beides
mit Sicherheit Anhaltspunkte in der Tradition, wie wir gesehen haben,
aber die Kombination war nicht notwendigerweise vorgegeben.
 
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