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Albrecht Dihle
legentlich auch sonst ihren Ausdruck finden (Demokrit B 3; 61; Eur.
Hec. 597f.). Indessen kommt an derlei Stellen nie das Wort öaip,cov vor.
Daß der Daimon des Menschen, der sein Leben bestimmt, in Wahr-
heit seine Seele bzw. ihr wertvollster Teil sei, ist zuerst ausdrücklich von
Platon formuliert worden (Tim. 90a). Xenokrates setzte nach einem bei
Aristoteles erhaltenen Fragment (81 Heinze) die des Menschen
seinem Daimon gleich. In diese Tradition gehört dann die orthodox-
stoische Lehre, daß die zwar nicht unsterbliche, aber den Körper über-
lebende Seele des Weisen bis zur Ekpyrosis als Daimon fortexistiere.
Poseidonios endlich interpretierte das Gebot, dem Gott zu folgen, als
Gehorsam gegenüber dem wertvollsten Teil der Seele (fr. 187 Edel-
stein-Kidd), und in der späteren Stoa ist allenthalben von einem Dai-
mon als Wächter und Lenker in der Seele des Menschen die Rede, den
man mit der obersten Seelenkraft gleichzusetzen habe (Stellen bei H.
Chadwick, RAC 10, 1047^19). Auf vielfache Weise wurde diese Vor-
stellung christianisiert und mit dem Gewissensbegriff in Verbindung ge-
bracht.
Es scheint mir deutlich zu sein, daß Antigone an der besprochenen
Stelle von solch’ einem Daimon im Innern des Menschen spricht. Unter
dieser Voraussetzung erhält der Vers, den alle Erklärer für mehr oder
weniger unverständlich gehalten haben (vgl. Fraenkel aaO. 108), seinen
guten Sinn, und vor allem paßt er zum vorhergehenden Vers, in dem
vom eigenen, von Natur oder Herkunft nicht determinierten Handeln
des Polyneikes die Rede war.
Wenn aber dieses die richtige Interpretation des Daimon/Tyche-Ver-
ses ist, kann er schwerlich in vorhellenistischer Zeit gedichtet worden
sein, unbeschadet der unbezweifelbaren Tatsache, daß man bei Euripi-
des gelegentlich „Protohellenistisches“ liest.
Überaus merkwürdig, darauf hat schon Eduard Fraenkel hingewiesen
(aaO. 110), ist der Vers 1677 der großen Stichomythie. Antigone be-
kräftigt ihre Entschlossenheit, es für den Fall, daß sie zur Ehe mit Hai-
mon gezwungen wird, den Danaiden gleichzutun, mit einem Schwur:
lotco oiöiqpog öqkiöv te poi ^üpog. Die mit iotco eingeleitete Formel hat
nur Sinn, wenn sie zum Eid auf einen Gegenstand gehört, den der
Schwörende anfaßt oder doch in unmittelbarer Nähe bei sich hat. Üb-
licherweise schwört man bei Göttern, vor allem bei Zeus, Apollon, De-
meter. Ein Witz bei Aristophanes (Nub. 248) beruht auf dieser Sitte:
Strepsiades schwört bei den Göttern, Sokrates das fällige Honorar zah-
len zu wollen. Sokrates belehrt ihn darüber, daß man in seiner Schule
nicht den Göttern glaube. Das dabei verwendete Wort vöp,iop,a mißver-
Albrecht Dihle
legentlich auch sonst ihren Ausdruck finden (Demokrit B 3; 61; Eur.
Hec. 597f.). Indessen kommt an derlei Stellen nie das Wort öaip,cov vor.
Daß der Daimon des Menschen, der sein Leben bestimmt, in Wahr-
heit seine Seele bzw. ihr wertvollster Teil sei, ist zuerst ausdrücklich von
Platon formuliert worden (Tim. 90a). Xenokrates setzte nach einem bei
Aristoteles erhaltenen Fragment (81 Heinze) die des Menschen
seinem Daimon gleich. In diese Tradition gehört dann die orthodox-
stoische Lehre, daß die zwar nicht unsterbliche, aber den Körper über-
lebende Seele des Weisen bis zur Ekpyrosis als Daimon fortexistiere.
Poseidonios endlich interpretierte das Gebot, dem Gott zu folgen, als
Gehorsam gegenüber dem wertvollsten Teil der Seele (fr. 187 Edel-
stein-Kidd), und in der späteren Stoa ist allenthalben von einem Dai-
mon als Wächter und Lenker in der Seele des Menschen die Rede, den
man mit der obersten Seelenkraft gleichzusetzen habe (Stellen bei H.
Chadwick, RAC 10, 1047^19). Auf vielfache Weise wurde diese Vor-
stellung christianisiert und mit dem Gewissensbegriff in Verbindung ge-
bracht.
Es scheint mir deutlich zu sein, daß Antigone an der besprochenen
Stelle von solch’ einem Daimon im Innern des Menschen spricht. Unter
dieser Voraussetzung erhält der Vers, den alle Erklärer für mehr oder
weniger unverständlich gehalten haben (vgl. Fraenkel aaO. 108), seinen
guten Sinn, und vor allem paßt er zum vorhergehenden Vers, in dem
vom eigenen, von Natur oder Herkunft nicht determinierten Handeln
des Polyneikes die Rede war.
Wenn aber dieses die richtige Interpretation des Daimon/Tyche-Ver-
ses ist, kann er schwerlich in vorhellenistischer Zeit gedichtet worden
sein, unbeschadet der unbezweifelbaren Tatsache, daß man bei Euripi-
des gelegentlich „Protohellenistisches“ liest.
Überaus merkwürdig, darauf hat schon Eduard Fraenkel hingewiesen
(aaO. 110), ist der Vers 1677 der großen Stichomythie. Antigone be-
kräftigt ihre Entschlossenheit, es für den Fall, daß sie zur Ehe mit Hai-
mon gezwungen wird, den Danaiden gleichzutun, mit einem Schwur:
lotco oiöiqpog öqkiöv te poi ^üpog. Die mit iotco eingeleitete Formel hat
nur Sinn, wenn sie zum Eid auf einen Gegenstand gehört, den der
Schwörende anfaßt oder doch in unmittelbarer Nähe bei sich hat. Üb-
licherweise schwört man bei Göttern, vor allem bei Zeus, Apollon, De-
meter. Ein Witz bei Aristophanes (Nub. 248) beruht auf dieser Sitte:
Strepsiades schwört bei den Göttern, Sokrates das fällige Honorar zah-
len zu wollen. Sokrates belehrt ihn darüber, daß man in seiner Schule
nicht den Göttern glaube. Das dabei verwendete Wort vöp,iop,a mißver-