Metadaten

Schulin, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1983, 2. Abhandlung): Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre: zu seiner Vorlesung über das Studium der Geschichte (den Weltgeschichtlichen Betrachtungen)$dvorgetragen am 30. April 1983 — Heidelberg: Winter, 1983

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47810#0010
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Ernst Schulin

zum endgültigen Aufbau der Vorlesung rekonstruieren, oder genauer
gesagt: die Entwicklung zu einem Text, dem Burckhardt niemals das
Imprimatur gegeben hat, den er sogar „zum Verbrennen“ bestimmt
hat, von dem er andererseits aber auch alle Vorstufen sorgfältig aufge-
hoben hat.11
Sicherster Bestandteil des Textes ist die Disposition, vor allem die
Lehre von den drei Potenzen Staat, Religion und Kultur und ihren
sechs Bedingtheiten. Man könnte beinahe sagen, ähnlich wie der
dialektische Dreischritt ein zuverlässiges, sicherndes Gerüst der - viel
unsicherer überlieferten - Vorlesungen Hegels bildet, so diese sehr ein-
fache, geradezu mechanistisch anmutende Betrachtungsweise bei
Burckhardt. Er hat sich nie vorher oder nachher ein vergleichbares
Schema ausgedacht. Neben dem unverwechselbaren Tonfall, seinem
heiter-skeptischen Betrachtungs- und Beurteilungsstil, ist diese Poten-
zenlehre wohl das Auffallendste an den Weltgeschichtlichen Betrach-
tungen, dasjenige, worin gern das Große, Neue seiner geschichtlichen
Wahmehmungsart gesehen wird. Es besteht, kurz zusammengefaßt, in
zweierlei.
Erstens in der Abkehr von der Betrachtung des weltgeschichtlichen
Gesamtprozesses, des „Längsschnitts“ durch die Geschichte. Burck-
hardt warf den Geschichtsphilosophen, vor allem Hegel, vor, daß sie
chronologisch vorgingen und dabei ungerechtfertigterweise einen
Weltplan, eine Fortschrittsentwicklung voraussetzten. (225f.)12 Auch
die unphilosophischen Historiker gingen natürlich im Allgemeinen so
vor, wenn sie auch in der Voraussetzung des weltgeschichtlichen Pro-
11 Die These von Rudolf Stadelmann, es handele sich (beim „Neuen Schema“) um ein
„einheitliches Manuskript ..das nicht mehr als Unterlage für einen Vorlesungs-
kursus gedacht war, sondern in Gliederung und Aufbau, in der durchgehenden
Paginierung und der Eindeutigkeit des Wortlautes die Konzepthandschrift für ein
Buch darstellte“, ist nicht haltbar. (Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrach-
tungen, in: Historische Zeitschrift 169,1949, S. 33). Burckhardt schrieb diesen Text
zwar auf Foliobögen, wie er es bei Buchmanuskripten zu tun pflegte, aber eindeutig
im Winter 1868/69 für die erstmalige Durchführung der Vorlesung. Auch die häufig
nur angedeuteten, nicht ausgeführten Gedankengänge sowie die vielen unvoll-
ständigen, manchmal stichwortartigen Sätze sprechen dagegen, daß dies „von ihm
selbst in der vorliegenden Form und Disposition für den Druck ausersehen war
und nur der letzten stilistischen Überarbeitung wartete“ (S. 32). Daß er auf den
Umschlag später „Zum Verbrennen“ schrieb: Kaegi (wie Anm. 9), Bd. VI, 1, S. 3. Vgl.
auch Ganz (wie Anm. 5), S. 53.
12 Bezieht sich, wie alle folgenden eingeklammerten Seitenzahlen im Text, auf die
Edition von Ganz (wie Anm. 5).
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften