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Walter Burkert
4. Zum Lehnwörter-Problem
Das deutlichste und anhaltendste Zeugnis für kulturellen Einfluß ist in der
Sprache aufgehoben. Was das Christentum, die römische Zivilisation und die
griechische Bildung fürs Abendland bedeutet hat, spricht immer noch aus unserer
gegenwärtigen Sprache. Anders scheint es mit dem Griechischen zu stehen, es
erweckt den Eindruck einer von keinem Fremden getrübten Reinheit. Dies wird
nicht ohne den Anschein der Berechtigung als Argument gegen die Hypothese
tiefergreifender Einflüsse des Orients’ verwendet: wenn enger Kulturkontakt zum
semitischen Osten je bestand, müßte dies in einer Fülle von semitischen Fremd-
und Lehnwörtern sich verraten1. Dies ist offenbar nicht der Fall, womit die Hypo-
these als widerlegt zu gelten hat.
Doch ist zu differenzieren. Es gibt anerkannte semitische Lehnwörter im vor-
hellenistischen Griechisch, darunter so wichtige wie μνά die 'Mine’, grundlegende
Gewichts- und Geldeinheit; κανών der 'Maßstab’; δέλτος die 'Schreibtafel’. Sie
zeugen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit vom Handels-, Handwerker- und
Schriftverkehr in der orientalisierenden Epoche.
Die Tatsache freilich, daß die Beschäftigung mit der griechischen Sprache seit
bald zwei Jahrhunderten den Indogermanisten zufällt, droht die Perspektiven zu
verzerren. Als 'Etymologie’ eines griechischen Worts gilt in den einschlägigen
Lexica per definitionem eine indogermanische Etymologie; dabei wird auch ent-
legenes, etwa armenisches oder litauisches Sprachgut mit Liebe beigebracht;
mögliche Entlehnungen aus dem Semitischen aber werden, als uninteressant,
allenfalls ungenau angegeben und nicht weiter verfolgt. Zwar ist bekanntlich
ein Großteil des griechischen Wortschatzes ohne sichere indogermanische Etymo-
logie; doch pflegt man lieber mit ägäischem Substrat oder anatolischen Parallelen
zu rechnen2, weithin unbekannte Größen, statt die wohlbekannten semitischen
Sprachen heranzuziehen. Beloch wollte gar den rhodischen Zeus Atabyrios von
Atabyrion = Tabor trennen zugunsten vager anatolischer Anklänge3. Hier war der
Antisemitismus manifest; sonst mag er nicht selten im Verborgenen wirken. Die
angesehensten Indogermanisten haben sich erstaunliche Fehlurteile geleistet: die
Zahl der semitischen Lehnwörter im Griechischen sei „ganz verschwindend ge-
ring“ - so Debrunner -, ja sie erreiche nicht einmal die Zehnzahl - so Meil-
1 Z.B. Vermeule (1971) 185f. “If eastern influence had been comparatively recent, one
might expect the seams to show, or names and terms to have been merely transliterated
from another language”.
2 Vgl. Einleitung bei Anm. 15. 'Substratwörter’ wird man bei mediterranen Charakteristika
wie 'Wein’ (semit. wajn, hebt, ja/«.· Brown [1969] 147-51) oder 'Rose’ (arab. ward, aram.
werad: Brown (1980) 11; 19,1) annehmen.
3 RhM 49, 1894, 130, „einleuchtend“ nach Hiller v. Gärtringen RE II 1887. I 2, 15.
Walter Burkert
4. Zum Lehnwörter-Problem
Das deutlichste und anhaltendste Zeugnis für kulturellen Einfluß ist in der
Sprache aufgehoben. Was das Christentum, die römische Zivilisation und die
griechische Bildung fürs Abendland bedeutet hat, spricht immer noch aus unserer
gegenwärtigen Sprache. Anders scheint es mit dem Griechischen zu stehen, es
erweckt den Eindruck einer von keinem Fremden getrübten Reinheit. Dies wird
nicht ohne den Anschein der Berechtigung als Argument gegen die Hypothese
tiefergreifender Einflüsse des Orients’ verwendet: wenn enger Kulturkontakt zum
semitischen Osten je bestand, müßte dies in einer Fülle von semitischen Fremd-
und Lehnwörtern sich verraten1. Dies ist offenbar nicht der Fall, womit die Hypo-
these als widerlegt zu gelten hat.
Doch ist zu differenzieren. Es gibt anerkannte semitische Lehnwörter im vor-
hellenistischen Griechisch, darunter so wichtige wie μνά die 'Mine’, grundlegende
Gewichts- und Geldeinheit; κανών der 'Maßstab’; δέλτος die 'Schreibtafel’. Sie
zeugen mit aller wünschenswerten Deutlichkeit vom Handels-, Handwerker- und
Schriftverkehr in der orientalisierenden Epoche.
Die Tatsache freilich, daß die Beschäftigung mit der griechischen Sprache seit
bald zwei Jahrhunderten den Indogermanisten zufällt, droht die Perspektiven zu
verzerren. Als 'Etymologie’ eines griechischen Worts gilt in den einschlägigen
Lexica per definitionem eine indogermanische Etymologie; dabei wird auch ent-
legenes, etwa armenisches oder litauisches Sprachgut mit Liebe beigebracht;
mögliche Entlehnungen aus dem Semitischen aber werden, als uninteressant,
allenfalls ungenau angegeben und nicht weiter verfolgt. Zwar ist bekanntlich
ein Großteil des griechischen Wortschatzes ohne sichere indogermanische Etymo-
logie; doch pflegt man lieber mit ägäischem Substrat oder anatolischen Parallelen
zu rechnen2, weithin unbekannte Größen, statt die wohlbekannten semitischen
Sprachen heranzuziehen. Beloch wollte gar den rhodischen Zeus Atabyrios von
Atabyrion = Tabor trennen zugunsten vager anatolischer Anklänge3. Hier war der
Antisemitismus manifest; sonst mag er nicht selten im Verborgenen wirken. Die
angesehensten Indogermanisten haben sich erstaunliche Fehlurteile geleistet: die
Zahl der semitischen Lehnwörter im Griechischen sei „ganz verschwindend ge-
ring“ - so Debrunner -, ja sie erreiche nicht einmal die Zehnzahl - so Meil-
1 Z.B. Vermeule (1971) 185f. “If eastern influence had been comparatively recent, one
might expect the seams to show, or names and terms to have been merely transliterated
from another language”.
2 Vgl. Einleitung bei Anm. 15. 'Substratwörter’ wird man bei mediterranen Charakteristika
wie 'Wein’ (semit. wajn, hebt, ja/«.· Brown [1969] 147-51) oder 'Rose’ (arab. ward, aram.
werad: Brown (1980) 11; 19,1) annehmen.
3 RhM 49, 1894, 130, „einleuchtend“ nach Hiller v. Gärtringen RE II 1887. I 2, 15.