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Hengel, Martin; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1984, 3. Abhandlung): Die Evangelienüberschriften: vorgetragen am 18. Oktober 1981 — Heidelberg: Winter, 1984

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https://doi.org/10.11588/diglit.47814#0038
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Martin Hengel

Gemeinde am Herrentag „stets zur Belehrung verlesen werde“ und
so für ihn nun dasselbe gelte wie für den 70 Jahre zuvor entstan-
denen 1. Clemensbrief \ Man darf dabei freilich gottesdienstliche
Anagnose und „Kanonisierung“ nicht einfach gleichsetzen. Zunächst
bedeutet die Verlesung im Gottesdienst lediglich die Hochschätzung
einer Schrift aufgrund ihres Inhalts bzw. der Autorität ihres Ver-
fassers, wobei man beides zugleich als Wirkungen des Geistes ver-
stehen konnte. Darüber hinaus wurde zwischen einzelnen Schriften
entsprechend ihrer Dignität unterschieden. Bestimmte Bücher wie die
Propheten, die Psalmen und der Pentateuch hatten von Anfang an
besonderen Rang.
Da man in der Regel über eine Vielfalt von Schriften verfügte,
die vorgelesen werden konnten, mußte vor der Verlesung dann auch
der Buchtitel und u.U. der Name des Autors genannt werden. Darum
beginnt die Passahomilie des Melito von Sardes um 170 mit der Be-
merkung: „Es wurde verlesen die Schrift des hebräischen Exodus“81 82.
Bereits Lukas erzählt, daß Jesus in der Synagoge von Nazareth „die
Rolle des Propheten Jesaja übergeben worden“ sei83.
81 Euseb, h.e. 4,23,11. Die Sammlung und der Austausch von Briefen und Brief-
corpora wie des Corpus Paulinum, der Briefe des Corpus Johanneum, der Ignatius-
briefe, ja selbst noch der Briefe des Dionysios von Korinth zwei Generationen
später, zwischen den Gemeinden diente vor allem der Bereicherung des Gottes-
dienstes. Auch die frühen Märtyrerakten haben die äußere Form von (Rund-)Briefen
und wurden mit dem Ziel der gottesdienstlichen Verlesung verfaßt. Diese Lesung
hat aber nicht nur einen erbaulichen Aspekt, sondern ist zugleich ein Akt der
Kirchenpolitik, dazu P. Nautin, Lettres et ecrivains chretiens des IIe et ΙΙΓ siecles,
1961, 27f.: «Omettre cette lecture etait une injure ä l’eveque expediteur; cela
signifiait qu’on ne le tenait pas pour legitime“, mit Hinweis auf Cyprian, ep. 65.
Er versteht allerdings unter dem „Brief des Clemens“ einen vorhergehenden
Brief, den Dionysios von der römischen Gemeinde bekommen habe, daß man darin
sinnvollerweise wie Euseb den 1. Clemensbrief sehen könnte (s. auch h.e. 3,16
und die Bemerkung Hegesipps bei Euseb, h.e. 4,22,1 f.), erwägt er nicht (28 Anm. 1).
82 Ή μέν γραφή τής Εβραϊκής έξόδου άνέγνωσται, s. dazu G. Zuntz, HThR 36
(1943) 299-315 = Opuscula Selecta, 1972, 293-309 und die widersprechende
Deutung von S. G. Hall, in: Kyriakon. Festschrift J. Quasten, 1970, 236-248.
Vgl. auch Justin, dial 59,2: έν τη βίβλω ή έπιγράφεται Έξοδος; 59,1; 75,1; 126,2.
Zu Mose als Autor 79,4; 90,4.
83 4,17: και έπεδόθη αύτω βιβλίον προφήτου Ήσαΐου. Wenn man davon absieht,
daß Lukas hier milieugemäß von einer Buchrolle spricht, die aufgerollt wird,
und aus der der Vorleser am Pult stehend las (vgl. 4,20), so wird man sich die
Lesungen im christlichen Gottesdienst in analoger Weise denken müssen. Jedoch
trat hier schon sehr bald an die Stelle der Rolle der Codex. Auf die Nennung der
Schrift konnte man hier wie dort nicht verzichten.
 
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