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Jüngel, Eberhard; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1985, 1. Abhandlung): Glauben und Verstehen: zum Theologiebegriff Rudolf Bultmanns; vorgetragen am 20. Okt. 1984 — Heidelberg: Winter, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.47815#0070
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Eberhard Jüngel

VI. Glauben und Verstehen -
Die Vorzüge der Bultmannschen Verhältnisbestimmung
Bultmanns begriffliche Bestimmung des Glaubens als eines neuen
Sich-selbst-Verstehens, in dem der Verstehende gleichermaßen Gott
und sich selbst versteht, ist eine nicht nur in exegetischer, sondern auch
in systematischer Hinsicht bedeutsame Leistung. Der theologiege-
schichtliche Rang dieser Leistung wird deutlich, wenn man sich vor
Augen hält, mit welchen Problemen die theologische Überlieferung
bei ihren Versuchen, den Glaubensakt begrifflich zu bestimmen, kon-
frontiert war. Einige Hinweise mögen genügen.
In der platonisch geprägten philosophischen Tradition war der Glau-
bensbegriff gekennzeichnet durch die Bestimmung der Trume; als einer
hinsichtlich des Gewißheitsgrades minderen Weise des Erkennens, die
zwar der bloßen Vermutung (sixacria) überlegen, aber mit ihr zusam-
men als Fürwahrhalten (öo£a) der strengeren Gestalt des wissenschaft-
lichen Erkennens und Wissens (der vorjau;, die ihrerseits in ettiotthiti
und öiavoia unterschieden wurde) unterlegen ist217. Durch eine unan-
gemessene Kombination neutestamentlicher Aussagen - vor allem der
paulinischen Behauptung 2Kor 5,7, daß wir (noch) im Glauben (öia
ttigtegx;) und eben deshalb (noch) nicht im Schauen (öia eiöolx;) wan-
deln, mit der Aussage IKor 13,12, daß wir jetzt nur fragmentarisch (ex
pspou<;) und noch nicht so erkennen, wie wir (von Gott) erkannt wor-
den sind - legte es sich nahe, auch den christlichen Glauben in diesem
Sinne als eine hinsichtlich seines Gewißheitsgrades mindere Weise des
Erkennens aufzufassen. Andererseits war sowohl im griechischen wie
im lateinischen Sprachraum Glaube Ausdruck für ein Treueverhältnis,
so daß dem Glaubensakt im Unterschied zu seinem erkenntnis-meta-
physischen Mangel an Gewißheit nun doch das der Treue eigene perso-
nale Merkmal des Sich-seiner-Sache-gewiß-Seins zukam. Voraus-
setzung solcher Gewißheit ist freilich, daß der hinsichtlich der
Erkenntnisrelation vorhandene Mangel an Gewißheit durch eine ihrer-
seits verläßliche Autorität ausgeglichen wird, die die Wahrheit der hin-
sichtlich des Gewißheitsgrades mangelhaften Erkenntnis verbürgt und

217

Vgl. Platon, Politeia VII, 533e-534a; dazu Politeia VI, 511d-e.
 
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