Klio in Moskau
9
„Vaterländische Geschichte“
Wie angedeutet, wird das Vaterland, wird auch die Vaterländische
Geschichte umstandslos von heute her definiert, von den territorialen
Dimensionen her, die der Sowjetstaat im Lauf seiner Entwicklung und
Ausdehnung gewonnen hat. Dieses Verständnis projiziert die Gegen-
wart auf die Vergangenheit, bis zu den Anfängen, bis zur Vor- und
Frühgeschichte zurück. Obschon Sibirien, um nur ein Beispiel zu nen-
nen, erst im 17. Jahrhundert an Rußland kam, werden doch bereits die
mesolithischen und neolithischen Stämme zwischen dem Ural und der
fernöstlichen Küste der sowjetischen Geschichte einverleibt. Entspre-
chendes gilt für Mittelasien, den Kaukasus und für andere Peripherien
des heutigen Staatsgebiets.10
Vaterländische Geschichte im vorgestellten Sinn ist keine Schöp-
fung der bolschewistischen Revolution, sie ist eine Errungenschaft der
Stalinzeit. Ihre Geburt läßt sich exakt datieren: Am Anfang stand ein
gemeinsamer Beschluß des Rats der Volkskommissare und des Zen-
tralkomitees der KPdSU vom 15. Mai 1934. Angeordnet wurden die
durchgreifende Umgestaltung des Geschichtsunterrichts und die Wie-
dererrichtung der Historischen Fakultäten, zunächst beschränkt auf
die Moskauer und die Leningrader Universität. Weitere Erlasse folg-
ten. Sie verfügten die Abfassung neuer Geschichtsbücher. Die Spitzen
der Partei, von Stalin angeführt, kritisierten öffentlich die eingereichten
Entwürfe. Für die besten Lehrbuchmanuskripte wurden hohe Geld-
preise ausgesetzt.11 Heute heißt es, daß damals, 1934, das „Ende des
nationalen Nihilismus“ eingeleitet worden sei. In eben diesem Sinn
haben die sowjetischen Historiker kürzlich das fünfzigste Jubiläum
11. 1960, S. 295-384; Hans Hecker, Russische Universalgeschichtsschreibung. Von
den „Vierziger Jahren“ des 19. Jahrhunderts bis zur sowjetischen „Weltgeschichte“
(1955-1965), München, Wien 1983, S. 196ff.
10 VgL die in Anm. 6 genannte Akademieausgabe: Istorija SSSR, Bd. 1, Moskau 1966,
S. 52 ff. - Auch das „Handbuch der Geschichte Rußlands“ (Bd. 1. Hg. von Manfred
Hellmann, Stuttgart 1978 ff.) beginnt in seinem chronologischen Aufbau mit einem
Kapitel über die Urgeschichte (von Karl J. Narr). Dabei wünschen die Herausgeber,
mißverständlich genug, „Geschichte Rußlands“ als „Nationalgeschichte“ zu verste-
hen. Zugleich verweisen sie auf „die moderne Ausweitung der nationalgeschichtli-
chen Fragestellungen in Komparatistik und Beziehungsgeschichte“ (Vorwort zu Bd.
1, S. V).
11 Die einschlägigen Beschlüsse und Kommentare finden sich in der verdienstvollen
Dokumentation von Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln
1967, S. 125ff.
9
„Vaterländische Geschichte“
Wie angedeutet, wird das Vaterland, wird auch die Vaterländische
Geschichte umstandslos von heute her definiert, von den territorialen
Dimensionen her, die der Sowjetstaat im Lauf seiner Entwicklung und
Ausdehnung gewonnen hat. Dieses Verständnis projiziert die Gegen-
wart auf die Vergangenheit, bis zu den Anfängen, bis zur Vor- und
Frühgeschichte zurück. Obschon Sibirien, um nur ein Beispiel zu nen-
nen, erst im 17. Jahrhundert an Rußland kam, werden doch bereits die
mesolithischen und neolithischen Stämme zwischen dem Ural und der
fernöstlichen Küste der sowjetischen Geschichte einverleibt. Entspre-
chendes gilt für Mittelasien, den Kaukasus und für andere Peripherien
des heutigen Staatsgebiets.10
Vaterländische Geschichte im vorgestellten Sinn ist keine Schöp-
fung der bolschewistischen Revolution, sie ist eine Errungenschaft der
Stalinzeit. Ihre Geburt läßt sich exakt datieren: Am Anfang stand ein
gemeinsamer Beschluß des Rats der Volkskommissare und des Zen-
tralkomitees der KPdSU vom 15. Mai 1934. Angeordnet wurden die
durchgreifende Umgestaltung des Geschichtsunterrichts und die Wie-
dererrichtung der Historischen Fakultäten, zunächst beschränkt auf
die Moskauer und die Leningrader Universität. Weitere Erlasse folg-
ten. Sie verfügten die Abfassung neuer Geschichtsbücher. Die Spitzen
der Partei, von Stalin angeführt, kritisierten öffentlich die eingereichten
Entwürfe. Für die besten Lehrbuchmanuskripte wurden hohe Geld-
preise ausgesetzt.11 Heute heißt es, daß damals, 1934, das „Ende des
nationalen Nihilismus“ eingeleitet worden sei. In eben diesem Sinn
haben die sowjetischen Historiker kürzlich das fünfzigste Jubiläum
11. 1960, S. 295-384; Hans Hecker, Russische Universalgeschichtsschreibung. Von
den „Vierziger Jahren“ des 19. Jahrhunderts bis zur sowjetischen „Weltgeschichte“
(1955-1965), München, Wien 1983, S. 196ff.
10 VgL die in Anm. 6 genannte Akademieausgabe: Istorija SSSR, Bd. 1, Moskau 1966,
S. 52 ff. - Auch das „Handbuch der Geschichte Rußlands“ (Bd. 1. Hg. von Manfred
Hellmann, Stuttgart 1978 ff.) beginnt in seinem chronologischen Aufbau mit einem
Kapitel über die Urgeschichte (von Karl J. Narr). Dabei wünschen die Herausgeber,
mißverständlich genug, „Geschichte Rußlands“ als „Nationalgeschichte“ zu verste-
hen. Zugleich verweisen sie auf „die moderne Ausweitung der nationalgeschichtli-
chen Fragestellungen in Komparatistik und Beziehungsgeschichte“ (Vorwort zu Bd.
1, S. V).
11 Die einschlägigen Beschlüsse und Kommentare finden sich in der verdienstvollen
Dokumentation von Erwin Oberländer, Sowjetpatriotismus und Geschichte, Köln
1967, S. 125ff.