Metadaten

Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0018
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
8

Hans Robert Jauss

Praxis präzisieren lassen. Im Medium moderner Lyrik, die sich zurecht
als Avantgarde des ästhetischen Modernismus verstehen konnte, läßt
sich der eingetretene Horizontwandel in einer kontrastiven Interpre-
tation von Zone und Lundi Rue Christine exemplarisch erläutern.
Denn dieses Gedicht fuhrt das neue Prinzip der Simultaneität noch um
einen radikalen Schritt weiter als Les Fenêtres3-, mit einer Grenzüber-
schreitung zur kontingenten Realität einer vertrauten und zugleich
unkenntlichen Rede - der fremden Stimme der Andern.
A la fin tu es las de ce monde ancien
Bergère ô tour Eiffel le troupeau des ponts bêle ce matin
Tu en as assez de vivre dans l’antiquité grecque et romaine
Ici même les automobiles ont l’air d’être anciennes
La religion seule est restée toute neuve la religion
Est restée simple comme les hangars de Port-Aviation, (v. 1-6)
Gleich die Eingangsverse von Zone proklamieren in pathetischer
Geste, fem aller Elegie des Abschieds, die Absage an die alte Welt der
ganzen abendländischen Vergangenheit: ist die griechische und
römische Antike nicht ferner gerückt als je, wo selbst die unlängst
erfundenen Automobile nun schon ‘alt’ erscheinen können? Das
bukolische Genus der Antike, ironisch zitiert im Anruf des Eiffelturms
als Schäferin inmitten einer Herde blökender Brücken, kündet an, was
hernach als grâce de cette rue industrielle (v. 23) zum Inbegriff einer
avantgardistischen Lyrik der Moderne erhoben wird: Großstadt als
ästhetische Landschaft, als Produktionsstätte einer Poesie, die sich tag-
täglich in ‘lauthals singenden’ Prospekten, Katalogen, Plakaten er-
neuert und ihr prosaisches Seitenstück in den Zeitungen, Groschen-
heften, Starportraits und ‘tausend verschiedenen Überschriften’ hat
(v. 11-14). Schon Baudelaire hatte Paris als Hauptstadt des XIX. Jahr-
hunderts zum lyrischen Paradigma der modernité erhoben, diese aber
zugleich als poetische Erfahrung der Entfremdung begriffen. Das
Kaleidoskop der Großstadtbilder in Zone scheint Baudelaires Erfah-
rung zurückzulassen: nicht der Spleen, der in den Fleurs du Mal selbst
noch bei der kühnsten Evokation naturfremder Paradiese (wie im Rêve
parisien) den immer drohenden Erfahrungsabbruch der Weltangst
ahnen läßt4, sondern das naive Staunen über die sich rasch und ständig
3 W. Wehle hat Les fenêtres eine bemerkenswerte Interpretation gewidmet (in: UTB
1191, S. 381-420), die ich als Seitenstück zum folgenden empfehlen möchte.
4 S. dazu Vf.: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1982,
S. 844.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften