Metadaten

Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0021
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Epochenschwelle von 1912

11

Liebe’ dem Flaneur die Frauen ‘in Blut getaucht’ (v. 81), das idyllische
Gegenbild der armen jüdischen Emigranten unerreichbar (v. 121), die
Liebe selbst als une maladie honteuse erscheinen (v. 86), die er am
Ende an einer pauvre fille au rire horrible abbüßen will (v. 143). Und
wenn er schließlich nach durchzechter Nacht heimkehrt, um unter sei-
nen ozeanischen Fetischen Schlaf zu suchen, erscheint ihm, statt der
utopischen Fliegergestalt des modernen Christus, ein unkenntlicher,
in die Vielheit zerstückelter Gott (Ce sont les Christs inférieurs des
obscures espérances, v. 154) und wird der Eingangsvision eines Him-
melflugs der modernen Welt das makabre Schlußbild der enthaupte-
ten alten Sonne entgegengesetzt:
Adieu Adieu
Soleil cou coupé
So endet die Erfahrung der Zerstückelung im Selbstverlust des lyri-
schen Ichs und gipfelt in einer Vision der zerstückelten Natur, so daß
sich in Zone auch schon der hohe Preis anzuzeigen scheint, der für die
emphatische Bejahung des technischen Triumphzugs der Moderne zu
entrichten war. Andererseits hat Apollinaire der Zerstückelung des
Subjekts in der Erfahrung von Raum und Zeit eine ästhetische Gestalt
gegeben, die mit modernen, in Zone normgebend erprobten poeti-
schen Verfahrensweisen eine Epochenwende in der Geschichte der
ästhetischen Wahrnehmung herbeiführen sollte. Es ist zum einen der
‘vers libre’, der nunmehr - freigesetzt von aller Interpunktion - die
ganze Vielfalt möglicher (auch: gewollt deformierter) Vers-, Rhyth-
mus- und Reimverhältnisse auszuspielen und dabei stets auch klas-
sische Versmuster oder lyrische ‘Töne’ zur Orchestrierung einer bis-
lang unerhörten Vielstimmigkeit zu erneuern erlaubt. Es ist zum
andern eine neue Ästhetik der Simultaneität, des ständig zerstückeln-
den Schnitts und der amimetischen Montage, die Realitätsaspekte,
Zitate und Erinnerungsfragmente einschließen kann. Als ob E. A.
Poes Maxime: „Toute intention épique résulte évidemment d’un sens
imparfait de l’art“ nun erst voll eingelöst würde10, findet sich der Leser
mit einem Text konfrontiert, dessen neuartige Dunkelheit nicht mehr
einem verschlüsselten oder mehrdeutigen Sinn, sondern allein dem
abrupten (oft nur mit einem unvermittelten ‘jetzt’ angezeigten) Wech-
10 Nach Baudelaire, in: Notes nouvelles sur Edgar Poe, Œuvres complètes de Charles
Baudelaire, éd. critique par F.-F. Gautier, Paris 1928, S. 29.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften