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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0022
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Hans Robert Jauss

sei der Erscheinungen, Visionen, Erinnerungen wie auch der sie
gerade so erfahrenen Subjekte entspringt. Damit ist vom Leser eine
ungewohnte Leistung der ästhetischen Wahrnehmung gefordert: da
ihm der situationsbedingte Anlaß der kaleidoskopartig wechselnden
Einstellungen entzogen bleibt, muß er als ‘dritte Person’, gleichsam in
der Rolle eines Fremden, auf den das evozierte Geschehen nicht
zugeordnet ist, selbst ständig Sinnhypothesen erstellen und die irritie-
rende Textwirklichkeit in immer wieder anderen Ansätzen ordnen,
um in verschiedenen Lektüren oder ‘parcours’ durch den Text dem
Simultanen der von Ort zu Ort springenden neuen Erfahrung moder-
nen Lebens ansichtig zu werden.
Die geforderte Lektüreleistung, mit der die Dialogstruktur - das auf
den Adressaten Zugesprochene - der klassischen Lyrik aufgehoben
wird, ist der Betrachtung eines kubistischen Bildes durchaus analog.
Denn „die Ästhetik der kubistischen Malerei beruht wesentlich auf der
Konzeption idealer oder kategorialer Schnitte, die den dargestellten
Gegenstand zerstückeln und ihn nach bildimmanenten Gesichtspunk-
ten wieder aufbauen, so ein neues ästhetisches Objekt konstituieren,
das dennoch vermittels seiner kategorialen Schnitte die Idee des
Objekts durchsichtig werden läßt“11. Das neue ästhetische Objekt
kann erst im Auge des Betrachters erstehen, wenn sein aktives, zerglie-
derndes, ordnendes und wieder umordnendes Schauen das Werk des
Künstlers aufnimmt und vollendet. Darum endigt die vom Leser
erwartete neue, poietische Eigenleistung nicht schon in der Wahrneh-
mung der Vielfalt kaleidoskopartig wechselnder Erscheinungen der
modernen Großstadt. Sie erfordert vielmehr, daß der Leser die her-
kömmlich kontemplative Einstellung aufgibt und selbst produktiv
wird, um durch die Destruktion gewohnter Erwartungen zur Rekon-
struktion einer modernen Erfahrung des Ganzen zu gelangen - zu
einer ästhetischen Idee der Welt, die im absolut Neuen ein unvordenk-
lich Altes wiedererkennen läßt. In der diskontinuierlich lyrischen
Bewegung von Zone, in der Rühmung eines unerhörten Hochflugs der
Moderne, in die gegenläufig die Erfahrung des zerstückelten, sich
selbst entzogenen Ichs eingeschrieben ist, kann der Widerspruch von
Anfangsvision und Schlußbild ungelöst bleiben. Entspricht er doch
vollauf dem modernen ‘Gefühl des Erhabenen, das dem Menschen
11 K. Stierle, in: UTB 1911, S. 95, nach M. Imdahl: „Cézanne - Braque - Picasso: Zum
Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen“, in: Wallraff-Richartz-
Jahrbuch, 36 (1974), S. 325-365, und in: UTB 1911, S. 528ff.
 
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