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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0025
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Die Epochenschwelle von 1912

15

der Dichter selbst - das ist die zweite, nicht weniger kühne Neuerung -
ist im Text schon gar nicht mehr als ruhender Pol und Konvergenz-
punkt einer privilegierten Perspektive faßbar. War das lyrische Ich in
Zone schon zerstückelt und ins Augenblickliche eines wandernden,
sprunghaft wechselnden Blickpunkts versprengt, so blieb es für den
Leser immer noch Ursprung eines nach außen wie nach innen gerich-
teten Blicks: als Flâneur, der seinen verfolgbaren Weg durch den mar-
kierten Pariser Tag einschlägt und mit der Heimkehr vollendet, und
zugleich als einer, der seine verlorene Identität in aufleuchtenden und
quälenden Momenten der Erinnerung sucht und dabei dem vergan-
genen Selbst immer nur als einem fremden begegnet. In Lundi Rue
Christine ist mit dem Verzicht auf diese Schwundstufe perspektivischer
Orientierung das lyrische Subjekt schlechthin unbestimmbar gewor-
den. Nun ist es am Leser, das verlorene, in der puren Kontingenz frem-
der Rede aufgegangene Subjekt zu suchen, was erfordert, daß ihn jede
Rede vor die meist nicht eindeutig beantwortbare Frage stellt, wer hier
zu wem und in welcher Absicht spricht: ist es der protokollierende
oder der für sich selbst sprechende Dichter, ist es sein Freund oder
sind es andere, anonyme Subjekte? Bilden zwei (oder mehr) aufein-
anderfolgende Verse und weiterhin die in ganz verschiedener Gruppie-
rung ‘geschnittenen’ Quasistrophen (von einer bis zehn Zeilen Länge)
eine semantische Einheit oder sind sie in verschiedener Einstellung
mit verschiedener Bedeutung zu entschlüsseln? Ist eine Äußerung als
quasi-objektive Wahrnehmung, als subjektiver Eindruck, als humori-
stischer Kommentar oder als Gedanke anderer (doch welcher?) Perso-
nen zu verstehen15?
Aus dieser vielfachen Unbestimmtheit des „lyrisme ambiant“ folgt
nicht allein, daß der Leser das Gedicht in verschiedenen Perspektiven
interpretieren kann, sondern daß er es in verschiedenen Perspektiven
interpretieren, mögliche Konsistenzen suchen und aus den stets
„gebrochenen Bildern“ verschiedene Gestalten bilden muß, um mehr
und mehr den irritierenden, nie zur definitiven Gestalt sich verfesti-
genden Gesamteindruck des Simultanen im Jetzt und Hier gegenwär-
tigen Lebens zu gewinnen. „Le simultanisme littéraire peut être donné
par l’emploi des contrastes des mots“16: das neue Prinzip der Simulta-
neität muß sich in der unabschließbaren Bewegung der suchenden,
15 S. dazu die ausführliche Analyse von Ph. Renaud (1969), S. 315ff.
16 Delaunay: Du cubisme à l’art abstrait, Paris 1957, S. 112; dazu M. Imdahl, in: Poetik
und Hermeneutik II, S. 477.
 
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