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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0029
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Die Epochenschwelle von 1912

19

und Motivation des Handelns, die ihr Subjekt stets erkennen und ver-
stehen läßt, auch wenn ihr Konflikt mit anderen Personen den Sinn der
Handlung problematisiert. Nun soll alle Handlung in pures Gesche-
hen und damit das eine, ordnende Subjekt in die kollektive Vielheit
von unbestimmten Subjekten aufgehen - in das Geschehen des einen,
beliebigen Augenblicks, wie es allein im gerade jetzt zu Sehenden und
zu Hörenden - im Anblick der Dinge, wie im alltäglichen Reden von
Personen - erscheinen mag. Damit kommt - nach der Reduktion des
„lyrisme ambiant“ auf das im Jetzt und Hier zugleich Gegenwärtige
und nach der Preisgabe des lyrischen Subjekts - die dritte, für die
Geschichte der Lyrik revolutionäre Neuerung zum Tragen: die Ein-
beziehung protokollierter (oder - wenn man lieber will - in der Kneipe
an der Straße alltäglich zu hörender) Konversationsfragmente und
damit die Aufhebung alltäglicher in poetische Rede. Dabei verschlägt
es nicht, ob Apollinaire in der Tat an einem Montag, mit Freunden in
der besagten Brasserie sitzend, eine Weile alles Gehörte aufgezeichnet
hat; der Effekt wäre derselbe, hätte er die Gesprächsfetzen einer All-
tagskonversation fingiert. Diese Neuerung führt einen Schritt über die
schon erörterte Analogie zur orphischen Malerei hinaus. Denn dort
schloß das Prinzip der Simultankontraste reiner Farben alles Gegen-
ständliche ja gerade aus, das hier in Lundi Rue Christine mit den Rede-
bruchstücken wieder kontrastiv eingesetzt wird. Damit leitet Apolli-
naire literarisch die gleiche Wende ein, die Picasso zur selben Zeit mit
seinen ersten Collagen (seit 1912) und Duchamp mit seinem ersten
Ready-made (Fahr-Rad, 1913) für die bildende Kunst eröffnet haben.
Die Analogie zwischen bildender Kunst und Poesie erstreckt sich
in der ‘neuen Ästhetik’ dieser Epochenwende zunächst darauf, dem
Betrachter oder dem Leser den Sinn vorzuenthalten, den das gleich-
sam zitierte Fragment - das ins Bild aufgeklebte ‘objet réel’ wie der
ins Gedicht einmontierte Gesprächsfetzen - im Kontext seiner Her-
kunft gewiß hatte, den nun aber der Kontext der Montage fremd
erscheinen läßt. Während sonst ein Zitat zwischen dem alten und dem
neuen Kontext vermittelt und damit dem Zitierten eine neue Bedeu-
tung erschließt, die sowohl den Sinn des gegenwärtigen wie den des
früheren Textes bereichern kann, macht das Zitat in der modernen
Montage die zitierte Realität wieder unverfügbar. Unverfügbar, aber
darum nicht unkenntlich! Vielmehr läßt das Zitat in diesem modernen
Gebrauch die fragmentarisch zitierte Realität gerade im Widerstand
gegen ein Verstehen neu erfahrbar werden, das über die Alltagsrealität
wie selbstverständlich verfügen zu können glaubte. Die einmontierten
 
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