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Hans Robert Jauss
Gesprächsfetzen sind meist banal und dunkel zugleich, nicht weil sie
an sich selbst dunkel wären oder weil sie eine unaufhebbare Differenz
zwischen dem Gesagten und Gemeinten bekunden würden, sondern
weil sie vom Ursprung und Zweck der Rede abgeschnitten sind. Nicht
die Kommunikation zwischen den Stimmen der Gäste, der Bedienung
oder der Passanten ist in Frage gezogen (sie dürfte nach den Regeln der
Sprechakttheorie durchaus für ‘geglückt’ gelten), sondern die Kommu-
nikation zwischen dem Konversationsgedicht und seinem Leser. Er ist
der ausgeschlossene Dritte, auf den hin alles Geäußerte nicht mehr -
wie in der bisherigen lyrischen Tradition - dialogisch zugeordnet ist.
Nun bleibt ihm gerade der authentische (oder quasi-authentische)
Sinn an sich klarer Sätze entzogen (die auch in ihrer Mehrdeutigkeit
begrenzt, nur verschieden interpretierbar, aber nicht willkürlich
bestimmbar sind), obschon dem Leser - was oft verkannt wird - ein
zwingendes Ganzes: das simultane Geschehen im Jetzt und Hier einer
Brasserie, fremd und doch auch wieder vertraut vor Augen steht.
Gerade das Faktische, das ‘objet trouvé’ im Ready-made wie die
lebenswahre Konversation im Gedicht, mithin das authentische
Detail, das im Realismus des 19. Jahrhunderts die Wahrheit der Illu-
sion in der nachgeahmten Wirklichkeit garantiert hätte26, muß nun
dazu dienen, die Realität des modernen Alltags fiktiv erscheinen zu
lassen und den Schein ihrer Vertrautheit zu zerstören, um - wie
Adorno am schönsten formuliert hat - durch eine „zweite Entfrem-
dung der entfremdeten Welt“ zu ihrer Restitution zu gelangen27.
Auf diese Weise hob die avantgardistische Kunst der jüngstvergan-
genen Moderne die Grenze zur Realität scheinbar auf, um den ästheti-
schen Charakter des autonomen Werks überhaupt in Frage zu stellen.
Demnach ist die Provokation eines Ready-made darin zu sehen, daß es
ein Objekt der kunstfremden Realität allein durch Isolierung und
museale Plazierung (Sockel, Rahmen) zum ‘Kunstwerk’ zu erheben
vorgibt, damit alle bisherige Tradition der Kunst negiert und den
Betrachter der - uns inzwischen geläufigen - Reflexion überläßt, was
daran noch oder nicht mehr Kunst sei, und weiterhin, ob und wie sich
Fiktion und Realität in einer selbst mehr und mehr fiktionalisierten
Welt überhaupt noch scheiden lasse. Doch damit nicht genug:
Duchamp hat diese Herausforderung des traditionellen Kunstver-
ständnisses mit der merkwürdigen, bisher noch kaum gewürdigten
26 S. dazu Vf., in: Poetik und Hermeneutik I, S. 160ff.
27 Noten zur Literatur II, Frankfurt 1970, S. 97.
Hans Robert Jauss
Gesprächsfetzen sind meist banal und dunkel zugleich, nicht weil sie
an sich selbst dunkel wären oder weil sie eine unaufhebbare Differenz
zwischen dem Gesagten und Gemeinten bekunden würden, sondern
weil sie vom Ursprung und Zweck der Rede abgeschnitten sind. Nicht
die Kommunikation zwischen den Stimmen der Gäste, der Bedienung
oder der Passanten ist in Frage gezogen (sie dürfte nach den Regeln der
Sprechakttheorie durchaus für ‘geglückt’ gelten), sondern die Kommu-
nikation zwischen dem Konversationsgedicht und seinem Leser. Er ist
der ausgeschlossene Dritte, auf den hin alles Geäußerte nicht mehr -
wie in der bisherigen lyrischen Tradition - dialogisch zugeordnet ist.
Nun bleibt ihm gerade der authentische (oder quasi-authentische)
Sinn an sich klarer Sätze entzogen (die auch in ihrer Mehrdeutigkeit
begrenzt, nur verschieden interpretierbar, aber nicht willkürlich
bestimmbar sind), obschon dem Leser - was oft verkannt wird - ein
zwingendes Ganzes: das simultane Geschehen im Jetzt und Hier einer
Brasserie, fremd und doch auch wieder vertraut vor Augen steht.
Gerade das Faktische, das ‘objet trouvé’ im Ready-made wie die
lebenswahre Konversation im Gedicht, mithin das authentische
Detail, das im Realismus des 19. Jahrhunderts die Wahrheit der Illu-
sion in der nachgeahmten Wirklichkeit garantiert hätte26, muß nun
dazu dienen, die Realität des modernen Alltags fiktiv erscheinen zu
lassen und den Schein ihrer Vertrautheit zu zerstören, um - wie
Adorno am schönsten formuliert hat - durch eine „zweite Entfrem-
dung der entfremdeten Welt“ zu ihrer Restitution zu gelangen27.
Auf diese Weise hob die avantgardistische Kunst der jüngstvergan-
genen Moderne die Grenze zur Realität scheinbar auf, um den ästheti-
schen Charakter des autonomen Werks überhaupt in Frage zu stellen.
Demnach ist die Provokation eines Ready-made darin zu sehen, daß es
ein Objekt der kunstfremden Realität allein durch Isolierung und
museale Plazierung (Sockel, Rahmen) zum ‘Kunstwerk’ zu erheben
vorgibt, damit alle bisherige Tradition der Kunst negiert und den
Betrachter der - uns inzwischen geläufigen - Reflexion überläßt, was
daran noch oder nicht mehr Kunst sei, und weiterhin, ob und wie sich
Fiktion und Realität in einer selbst mehr und mehr fiktionalisierten
Welt überhaupt noch scheiden lasse. Doch damit nicht genug:
Duchamp hat diese Herausforderung des traditionellen Kunstver-
ständnisses mit der merkwürdigen, bisher noch kaum gewürdigten
26 S. dazu Vf., in: Poetik und Hermeneutik I, S. 160ff.
27 Noten zur Literatur II, Frankfurt 1970, S. 97.