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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0031
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Die Epochenschwelle von 1912

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Forderung noch Überboten, ein Ready-made müsse auf den Tag, die
Stunde und die Minute genau datiert sein, mithin den Betrachter auf
den Moment verweisen, in dem es in den Fluß der Zeit eingeschrieben
wurde:
En projetant pour un moment à venir (tel jour, telle date, telle minute), d’in-
scrire un ready-made. - Le ready-made pourra ensuite être cherché (avec tous
les détails). L’important alors est donc cet horlogisme, cet instantané, comme
un discours prononcé à l’occasion de n’importe quoi mais à telle heure. C’est
une sorte de rendez-vous. - Inscrire naturellement cette date, heure, minute,
sur le ready-made comme renseignements. Aussi le côté exemplaire du ready-
made28.
Der ‘exemplarische Sinn’ des Ready-made wäre demnach in der Para-
doxie zu sehen, daß der ästhetische Gegenstand als ‘objet trouvé’ nicht
allein die klassische Dichotomie von Fiktion und Wirklichkeit in
Frage stellt, sondern ineins damit als fixierter Moment die pure, dem
Betrachter entzogene Kontingenz seiner Zeithaftigkeit (‘horlogisme’)
hervorkehrt: daß es auf den singulären Augenblick im Fluß der Zeit
verweist, in den es ‘eingeschrieben’ wurde, der aber als ein nicht wie-
derholbarer, obschon prägnanter Augenblick vom Betrachter als dem,
der nicht dabei war, in seiner historischen Evidenz nicht mehr erfaßt,
also nur imaginiert werden kann.
Die Information des eingeschriebenen Datums muß ins Leere lau-
fen, um die Provokation zu erzielen, daß gerade das nicht fiktive Ding
wie der faktische Augenblick seiner Erhebung zum ästhetischen
Objekt - mithin ein in doppeltem Sinne Authentisches - seinen Sinn
anzuzeigen scheint und ihn dem Betrachter, der nicht Augenzeuge
war, zugleich verweigert. Das Paradox dieser neuen ästhetischen
Erfahrung erläutert aufs Schönste Adornos Postulat einer „zweiten
Entfremdung der entfremdeten Welt“, sofern gerade das nicht singu-
läre Ding, die Fahrradgabel als reproduzierbares Stück einer Massen-
produktion oder die nicht singuläre Rede, ein Konversationsgedicht
aus stereotypen, im Alltag ständig gebrauchten Floskeln, durch die
Einschreibung des Augenblicks seiner Erhebung zum ästhetischen
‘objet ambigu’29 die Auszeichnung des Einmaligen und Authenti-
28 Zitiert nach Ph. Renaud (1969), S. 304, der die implizite Theorie dieser Äußerung
noch nicht ausgeschöpft hat.
29 Valérys Paradox des objet ambigu (aus dem 1923 entstandenen Eupalinos} habe ich
im Blick auf den Bedeutungswandel von Poiesis seit dem Avantgardismus um 1912
bereits in: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt 1982,
S. 117ff., erläutert.
 
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