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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0036
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Hans Robert Jauss

gung des ästhetischen Modernismus zu überschreiten, in seinen Médi-
tations esthétiques überschwenglich und doch trennscharf zur Sprache
gebracht37.
Die völlig neue Kunst habe nun für die Malerei zu vollbringen, was
die Musik der Literatur vorgab: „un art sublime“. Das Erhabene der
Moderne habe nichts mehr mit dem ‘utopischen Inhalt’ des überkom-
menen Begriffs zu tun; es sei vielmehr der Entdeckung einer vierten
Dimension in der nacheuklidischen Geometrie vergleichbar („l’im-
mensité de l’espace s’éternisant dans toutes les directions à un moment
déterminé“) und vom klassischen Begriff des Schönen geschieden („le
beau dégagé de la délectation que l’homme cause à l’homme“), um
hinfort das kühnste Verlangen der menschlichen Gattung zu erfüllen:
die ästhetische Idee eines im Licht humanisierten Universums. Hier
gibt Apollinaire seine metaphysische Begründung für die neue Erwar-
tung, daß im Simultanen eines kontingenten Jetzt und Hier, in dem
alles Gegenständliche aufgehoben ist, am Ende doch die Tiefendimen-
sion einer orphischen Weltenharmonie aufleuchten werde. Liegt es
nicht nahe, in diesem Programm Apollinaires Version von Nietzsches
berühmtem Satz zu sehen: daß „nur als ästhetisches Phänomen das
Dasein der Welt gerechtfertigt ist“38? Dann wird um so deutlicher, wie
unbekümmert sich die neue, orphische Kunst über das entfremdete
gesellschaftliche Dasein, über die Illusionen des Fortschritts und
damit über das Verhängnis der Geschichte in blanker Negation hin-
wegsetzen wollte. Natur und Geschichte figurieren in Apollinaires
Manifest nur noch in Gebärden des Triumphes der modernen Kunst:
die Natur als überwältigte Instanz unter ihren Füßen („la nature
terrassée“), die Geschichte als Leichnam der Väter hinfort der Gesell-
schaft der Toten zu belassen! Was künftig schön heißen soll, darf weder
der Erfahrung des schockartigen Wandels im je Gegenwärtigen noch
der ekstatischen Vorwegnahme einer unbekannten Zukunft entsprin-
gen: Apollinaire weist hier Baudelaires beauté fugitive als Inbegriff des
‘historisch Schönen’, die Verschwisterung des Modernen mit dem
Modischen, als bloße ‘Maske des Todes’ gleichermaßen ab wie den
Zukunftsmythus der italienischen Futuristen! Das ‘Monstrum des
Schönen’, mit dem sich der Maler der neuen Moderne den ‘Anblick
37 Das F. zitiert aus: Œuvres Complètes, Bd. IV, S. 15-26 (1913 unter dem Titel: Les
peintres cubistes veröffentlicht, obschon Apollinaire die avancierte Malerei bereits
auf den Namen orphisme umgetauft hatte).
38 Werke in drei Bänden, hg. K. Schlechta, München o. J. (1954Æ), I 14, vgl. 40, 131.
 
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