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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0037
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Die Epochenschwelle von 1912

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seiner eigenen Göttlichkeit’ zu geben sucht, ist auch kein Ewiges
mehr, sondern einer Flamme ähnlich, die zerstört, um die Welt in
neues Licht zu verwandeln - ein ‘Hauch ohne Anfang und Ende’, aber
doch auch ein unvordenkliches Wissen, das über Schöpfung und Welt-
untergang hinausreichen soll („que nous concevons avant toute la
création et la fin du monde“).
In der letzten Formulierung klingt ein vorangegangenes Epochen-
bewußtsein nach, das an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert im
breiteren Bewußtsein der literarischen Öffentlichkeit vielfach bezeugt
war. „Man rechnete allen Ernstes mit einem gewaltigen, allgemeinen
gesellschaftlichen Zusammenbruch, der spätestens um das Jahr neun-
zehnhundert eintreten und die Welt erneuern sollte“, berichtet unter
anderen der Chronist in Hauptmanns Der Narr in Christo Emmanuel
Quin?9. Hans Hinterhäuser und Viktor Zmegac haben unlängst die
Zeitstimmung im ausgehenden 19. Jahrhundert, als man „befürchtete
oder wünschte, das Fin de Siècle möchte zu einer fin du monde wer-
den“39 40, wieder einschlägig analysiert. Diese merkwürdige „Illusion, die
ihre Verkörperung in dem magischen Datum der Jahrhundertwende
fand“41, schlug im folgenden Jahrzehnt aus der enttäuschten apokalyp-
tischen Naherwartung wieder in eine neue Hoffnung um, daß statt des
Endes die Wende einer Zeit eingetreten sei. Das Fin de Siècle des
19. Jahrhunderts, mit seiner Weltangst42 und den ihr entspringenden
Vorzugsthemen: Tote Stadt, Dandytum, Femme fatale und Liebestod,
mit einer wissenschaftlichen Faszination, die die Vererbungstheorie,
die Neurosenlehre und die Psychopathologie populär machte, mit sei-
nen Weltbrandvisionen (Wagner, Zola) und apokalyptischen Phanta-
sien (Ernest Hello, Léon Bloy), seinen chiliastischen oder sozialisti-
schen Heilserwartungen und nicht zuletzt Nietzsches Philosophie des
Übermenschen und der ewigen Wiederkehr - diese Endzeitstimmung,
an deren Ernsthaftigkeit ihr freischwebender Ästhetizismus bald zwei-
feln ließ, schien den Avantgarden der Moderne von 1912 so abgelebt,
39 G. Hauptmann: Das gesammelte Werk, 1. Abt., Bd. 6, Berlin 1943, S. 443.
40 H. Hinterhäuser: Fin de Siècle - Gestalten und Mythen, München 1977, S. 15.
41 Zitiert aus dem Portrait der Epoche in Musils Mann ohne Eigenschaften (Teil I, Kap.
15), von dem V. Zmegac ausgeht: „Zum literarischen Begriff der Jahrhundertwende
(um 1900)“, in: Deutsche Literatur der Jahrhundertwende, hg. V. Zmegac, Königstein
1981, S. ix
42 Hinterhäuser zitiert dazu aus Stefan George: Der siebente Ring (Berlin 19143, S. 203):
Die dunkle furcht vor nahem pech und schwefel / die ahnung, daß am tor das end schon
harrt (wie Anm. 40, S. 19).
 
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