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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0038
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Hans Robert Jauss

wie sie der gegenwärtigen Strömung der Post-Moderne wieder aktuell
zu werden scheint. Die Analogien und Differenzen zwischen der Zeit-
stimmung eines Fin de Siècle im Ausgang des letzten und des gegen-
wärtigen Jahrhunderts verlohnten gewiß eine eigene Betrachtung. Als
spezifisch für den damaligen ‘Geist der Zeit’ sei hier nur noch hervor-
gehoben, daß der pathetische Satz Nietzsches: „Gott ist tot“ und sein
Seitenstück bei Barrés: „Tous les dieux sont morts ou lointains“ offen-
bar das Verlangen nach einer Kompensation hervorriefen, die allent-
halben in einer mythischen Wiederkehr von Doppelgängern Christi
Ausdruck fand43. Dabei hat sich das Dekadenzgefühl nicht allein in
einer Fülle kulturkritischer Lamentationen niedergeschlagen. Es
konnte auch - vorab in Th. Gautiers Nachwort auf die Fleurs du Mal
von 1862 - zu einer Ästhetik des Modernismus positiviert werden, die
im Antinaturalismus einer gewollt artifiziellen Poesie die einzig ange-
messene Antwort auf das entfremdete Leben in der großstädtischen
Zivilisation sah.
Für die deutschsprachige Literatur der Jahrhundertwende zeigte
Zmegac die vollendete Auflösung des klassischen, von Hegels Begriff
des objektiven Geistes bestimmten Epochenbewußtseins. Den Plura-
lismus konkurrierender Bewegungen in den verselbständigten, ins-
geheim mehr und mehr zum kompensatorischen Gesamtkunstwerk44
tendierenden Künsten vermag nun kein Epochenstil mehr zu über-
greifen. War der Historismus am Ende in das ästhetische Bewußtsein
der freien Verfügung über alle gleichrangig gesehenen Epochen der
Künste eingegangen, so entsprang daraus sowohl das von W. Benjamin
als Erscheinung des Verlustes der Aura erfaßte ‘musée imaginaire’
aller vergangenen Kunst, als auch - als Erfahrung der zeitgenössischen
Kunst - der Zerfall des Nacheinanders epochaler Sinneinheiten in ein
Nebeneinander gleichzeitig entstehender, sich bekämpfender und
rasch wieder abgelöster Schulen - ein Prozeß, der im spezifischen
Avantgardismus der Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht.
„Neue Namen kommen auf, Dekadenz, Symbolismus, Neuromantik,
Neuklassizismus, und sehen sich, bevor ihnen noch recht ihr Sinn
abgefragt werden kann, schon wieder von neuesten verdrängt“, konsta-
tiert Hermann Bahr 1912 in seiner Inventur der Zeit45. Die herkömm-

43 Nach Hans Hinterhäuser (wie Anm. 40), S. 8.
44 Dazu O. Marquant: „Gesamtkunstwerk und Identitätssystem“, in: Der Hang zum
Gesamtkunstwerk, Aarau und Frankfurt 1983, S. 48.
45 Zit. nach Zmegac, wie Anm. 31, S. xiv.
 
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