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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0041
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Die Epochenschwelle von 1912

31

liehen51. Und während die esoterische Ästhetik dieser Moderne der
mimetischen Kunst Valet sagte und aller Realismus hinfort unter den
Verdacht der naiven Affirmation des Bestehenden geriet, unternahm
ein neues Medium, der durchaus exoterische Film, die gegenläufige
Funktion einer „Erlösung der physischen Realität“ (in dieser Sicht
gewinnt die umstrittene These Siegfried Kracauers ihr historisches
Profil) - die Funktion jener „profanen Erleuchtung“, die nach Walter
Benjamin das Kollektiv im Materialismus seiner entfremdeten Welt
wieder heimisch machen sollte'2.

V.
Will man diese Epochenwende, die nach den leeren Erwartungen
des Fin de Siede eine authentische Erfahrung neuer Möglichkeiten der
modernen Künste mit sich brachte, in der Gleichzeitigkeit divergieren-
der Bewegungen fassen und doch auch versuchen, etwas wie einen
gemeinsamen Nenner des so verschieden verstandenen Neuen zu
bestimmen, so bietet sich an, die Metapher einer ‘Epochenschwelle’
ins Spiel zu bringen. Sie erlaubt, die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeiti-
gen in der hermeneutischen Differenz des Noch nicht und Nicht mehr,
mithin als fortschreitenden Horizontwandel zu erfassen, muß also
nicht schon den ‘objektiven Geist’ oder die hypothetische Einheit
eines geschichtlichen Zeitraums voraussetzen53. Von Apollinaire aus
gesehen ließe sich dann die Erfahrung des Neuen, die zwischen dem
Noch nicht von Zone und dem Nicht mehr von Lundi Rue Christine eine
Schwelle bildet, als eine Erfahrung bestimmen, die einen veränderten
Begriff von Wirklichkeit ansichtig macht, dessen Problematik verschie-
dene Lösungen der avantgardistischen Künste provoziert hat. Es ist
dies - hier nehme ich Thesen von H. Blumenberg aus Poetik und Her-
51 Nach G. v.d. Osten, wie Anm. 36, S. 11 ff. und M. Imdahl: „Is it a flag, or is it a
painting? Über mögliche Konsequenzen der konkreten Kunst“, in: Wallraf-Richartz-
Jahrbuch 31 (1969), S. 222.
52 Seit 1912 entstehen Spielfilme von mehr als einer Stunde Dauer, 1915 erscheint der
erste ‘künstlerische’ Film von Griffith: Birth of a Nation (freundlicher Hinweis von
Heinz Buddemeier); dazu ferner S. Kracauer: Theory of Film - The Redemption of
Physical Reality, London 1960, und W. Benjamin: „Der Sürrealismus“, in: Gesam-
melte Schriften, Frankfurt 1980, II, 1, S. 310.
53 S. dazu Poetik und Hermeneutik XII: Epochenbewußtsein und Epochenschwelle, hg. R.
Herzog/R. Koselleck, München 1985.
 
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