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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0042
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Hans Robert Jauss

meneutik /wieder auf-jenes spezifisch moderne Weltverständnis, das
Realität - und zwar die äußere wie die innere - in ihrer befremdenden
Widerständigkeit, „als das dem Subjekt nicht Gefügige“54 erfährt und
diese Erfahrung einer doppelten Entfremdung von Welt und Ich nun-
mehr mit ästhetischen Mitteln aufzuarbeiten beginnt. Der moderne
Wirklichkeitsbegriff der erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen
tritt bei Apollinaire wie bei Duchamp in dem Paradox am prägnante-
sten heraus, daß gerade das authentische „objet trouvé“ oder Fragment
der Alltagswirklichkeit, die das Ready-made wie das Konversations-
gedicht allererst kunstfähig machen, sich dem gewohnten Sinnverste-
hen ineins damit entzieht, daß es in ästhetischer Vermittlung präsen-
tiert wird. Damit hebt der Wirklichkeitsbegriff der widerständigen Rea-
lität den alten Wirklichkeitsbegriff der „garantierten Realität“ kritisch
auf, der seit Augustin und noch bei Descartes der Garantie eines gött-
lichen Zeichens oder eines metaphysischen Verfahrens (wie der Hypo-
these des ‘genius malignus’) bedurfte, um die Verläßlichkeit der
menschlichen Erkenntnis in der gegebenen Realität zu garantieren55.
Die Grenzerweiterung der bildenden Kunst und der Poesie auf eine
bisher nicht kunstfähige Realität macht bei Duchamp wie bei Apolli-
naire zugleich ihre Widerständigkeit bewußt. Die neu entdeckte Fülle
des Simultanen kehrt im Jetzt und Hier zugleich die pure Kontingenz
des gewählten Augenblicks hervor, über den der Künstler willkürlich
verfügt und ihn eben damit für den Betrachter oder Leser unverfügbar
macht.
Das poetische Verfahren, das Apollinaire mit Lundi Rue Christine
eröffnet hat, wird ein zukünftiger Klassiker dieser Moderne, James
Joyce, im Großen ausbauen: sein Ulysses destruiert nicht allein die
epische Handlung des realistischen Romans auf das Jetzt und Hier des
einen Tages in Dublin, auf die von Apollinaire zuerst verwirklichte
moderne Einheit und momentane Evidenz des Simultanen, sondern
datiert sein paradigmatisches Werk zugleich auf das kontingente
Datum des 4. Juni 1904. Für die moderne Lyrik formulierte Ezra
Pound in Blast I (1914) ganz entsprechend: “An image is that which
présents an intellectual and emotional complex in an instant of
time“56. Der moderne Wirklichkeitsbegriff, der sich an der Erfahrung
des Widerstands der sinnfremden Realität bildet, dürfte auch ein neues
54 „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“, in: Poetik und Hermeneutik I,
S. 13.
55 Ebd., S. 12.
56 Zitiert nach M. Hamburger (wie Anm. 49), S. 215.
 
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