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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0043
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Die Epochenschwelle von 1912

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Licht auf das Verfahren der Montage werfen, in dem Th. W. Adorno
eine spezifische Signatur der hier anhebenden Moderne sah. In der
literarischen wie in der pikturalen Montage werden die eingestreuten
oder aufgeklebten Zeitungsfetzen als „objet trouvé“ zum ästhetischen
„objet ambigu“ nobilitiert und zugleich, als Repräsentanten einer nicht
mehr verfügbaren Realität, zum hermeneutischen Paradox. Das gilt
sowohl für die um 1912 entstehenden ersten Collagen von Braque und
Picasso wie noch für die späteren Pisan Cantos von Ezra Pound. Ob die
im Anfang geforderte Datierung, die Signatur einer unverfügbaren
Kontingenz, bald wieder preisgegeben und ob damit dann auch die
Erfahrung der widerständigen Realität einer fortschreitenden Ent-
schärfüng der Montage anheimfiel, die eine latente Harmonie der ver-
nutzten Dinge des Alltags suchte und so zur modernen Variante des
‘Stillebens’ geraten konnte, ist eine Frage, die an den Kunsthistoriker
zu richten wäre.
Derselbe Wirklichkeitsbegriff scheint an dieser Epochenschwelle
nicht allein die äußere, sondern auch innere, gleichermaßen als unver-
fügbar erfahrene Realität zu bestimmen, wie nicht allein bei Apolli-
naire an der Dezentrierung und den Schwundstufen des Subjekts
zutage tritt. Nietzsches Aufzeichnung: „Meine Hypothese: das Subjekt
als Vielheit“57 stünde dann am Anfang eines Prozesses, in dem - wie in
der Interpretation von Zone sichtbar wurde - das Subjekt die Entgren-
zung der modernen Welterfahrung euphorisch bejahen, aber zugleich
sein Selbst in den Bruchstücken seiner fremd gewordenen Vergangen-
heit nicht mehr wiederfmden kann. Die neue Erfahrung einer Selbst-
entzogenheit, in der das Erinnern seine identitätsstiftende Kraft verlor,
ist die Herausforderung, die zur selben Zeit Marcel Proust in seinem
15bändigen Zyklus A la recherche du temps perdu aufnahm: hier erfährt
der Erzähler auf seinem Weg durch die Zeit immer wieder neu den
‘Tod des Ichs’, wenn im unentrinnbaren Prozeß des Vergessens Glück
und Leid einer Lebensphase schließlich so gleichgültig geworden sind,
als beträfen sie einen fremden Andern. Dementgegen setzt der gran-
diose Versuch Prousts ein, die verlorene Identität ineins mit der ver-
57 „Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht notwendig; vielleicht ist es
ebensogut, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und
Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewußtsein zugrundeliegt. Eine
Art Aristokratie von ‘Zellen’, in denen die Herrschaft ruht? Gewiß von ‘pares’,
welche miteinander ans Regieren gewöhnt sind und zu befehlen verstehen? Meine
Hypothese', das Subjekt als Vielheit“ (Fragment aus dem Nachlaß, Kritische Gesamt-
ausgabe, hg. Colli, Montinari, Bd. VII, 3, S. 382).
 
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