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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0044
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Hans Robert Jauss

lorenen Zeit durch eine so nie geleistete Arbeit der Erinnerung wieder-
zugewinnen: der Rekonstruktion der authentischen Erfahrung aus
Momenten der unfreiwilligen Erinnerung, die in der widerständigen
Realität des Unbewußten bewahrt, was das bewußte und soziale
Leben unweigerlich entstellt. Spezifisch modern an diesem Unter-
nehmen ist die vollendete Abkehr vom latenten Platonismus einer
säkularen ästhetischen Tradition: setzte ihr Wirklichkeitsbegriff der
„momentanen Evidenz“ eine Welterfahrung voraus, die „augenblick-
liches Erkennen und Anerkennen von letztgültiger Wirklichkeit“ ein-
schließt58, so schließt für Proust die opak gewordene Realität das Auf-
leuchten des Wahren im Gegenwärtigen, aber auch den reflexiven
Zugang zum transzendenten Reich des Wahren, Guten und Schönen
durch Anamnesis gerade aus. Die Dichtung der nun beginnenden
Moderne kann der Kunst die ihr bestrittene Erkenntnisfunktion wie-
der zurückgewinnen, wenn sie dem Wiedererkennen von schon
Erkanntem entsagt und die Aufarbeitung des Widerstands einer
unverfügbar gewordenen Realität als eine genuine Explorierung von
Welt und Ich im Akt des Schreibens selbst begreift.
Prousts Unternehmen verwirklicht damit Blumenbergs dritten
Wirklichkeitsbegriff, der „Realität als Resultat einer Realisierung“ auf-
nimmt59, unter der erschwerten Bedingung, die ästhetische Realisie-
rung eines in sich einstimmigen Kontextes angesichts der modernen
Erfahrung des „Subjekts als Vielheit“ allein aus der Arbeit der Erinne-
rung am Unbewußten und Vergessenen zu leisten. Gewiß ist diese
Lösung um den Preis einer prekären Totalisierung erkauft, die am
Ende die zerstückelte Erfahrung in die monadische Geschlossenheit
einer jemeinigen, vom Subjekt allein so erinnerten Welt einbringt (in
der Kritik an Prousts Lösung wird Beckett 1931 seinen eigenen
Ansatz finden). Doch bestätigt dieses einsame (in der Tat auch nicht
schulbildende) Experiment noch in seiner restaurativen Tendenz, daß
die Epochenschwelle vor 1914 nicht allein durch den modernen Wirk-
lichkeitsbegriff der unverfugbaren Realität, sondern auch durch die
Entdeckung des „Subjekts als Vielheit“ prägnant bestimmbar ist. Ihr
Korrelat ist der Abbau der einstimmigen, da subjektbezogenen Zen-
tralperspektive in der Malerei seit dem Kubismus und die Thematisie-
rung der Vielstimmigkeit in der Lyrik Apolünaires, Ezra Pounds und
T. S. Eliots wie in den Romanen James Joyces und Virginia Woolfs.
58 Blumenberg (wie Anm. 54), S. 11.
59 Ebd. S. 12.
 
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