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Jauß, Hans Robert; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1986, 1. Abhandlung): Die Epochenschwelle von 1912: Guillaume Apollinaire: "Zone" u. "Lundi rue Christine" ; vorgetragen am 11. Jan. 1986 — Heidelberg: Winter, 1986

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https://doi.org/10.11588/diglit.48144#0048
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38

Hans Robert Jauss

chenschwelle von 1912, hinter den Wirklichkeitsbegriff einer entfrem-
deten, widerständigen Wirklichkeit, die sich nicht einfach in die Luft
sprengen, wohl aber als Erfahrung der modernen Kunst ästhetisch auf-
arbeiten ließ.
Diese Bemerkung läßt sich durch die jüngsten Analysen zur Vor-
geschichte der historischen Erscheinung des Gesamtkunstwerks stüt-
zen, das als bislang unterschwellige Tendenz nach der Epochen-
schwelle von 1912 in neuer Gestalt wieder zutage trat. Werner Hof-
mann hat gezeigt, daß der Schritt zur autonomen Kunst auf dem Gipfel
der bürgerlichen Ära eine Trennung der Künste in autonome Gattun-
gen nach sich zog: „das autonome Kunstwerk hat in der Isolierung
seine notwendige Kehrseite“66. Dem widersprach von Anbeginn unter-
schwellig das Verlangen, die Isolation der Künste und ihre Abspaltung
von der Lebenspraxis in der transitorischen Idee eines Gesamtkunst-
werks zu überwinden, das im 19. Jahrhundert durch „Inszenierungen
im öffentlichen Raum“ repräsentiert ist, „die von der ‘ästhetischen Kir-
che’, dem Museum der Romantiker, über Runges ‘Tageszeiten-Pro-
jekt’ zu den synästhetischen Darbietungen reichen, in denen die Welt-
ausstellungen das Schaubedürfnis ihres Publikums zugleich erweckten
und befriedigten“67. Odo Marquard hat den Hang zum Gesamtkunst-
werk, die autonomen Einzelkünste zu totalisieren und ineins damit die
Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit zu tilgen, auf ihren uner-
kannten Anfang im „ästhetischen System des deutschen Idealismus,
dem Identitätssystem Schellings“, zurückgeführt und gezeigt, daß die
Umsetzung dieses Systems vom Gesamtkunstwerk Wagners bis zu
den ästhetisch inszenierten Parteitagen des 20. Jahrhunderts einer
zweifachen Wiederkehr des Verdrängten anheimfielen: der verdrängte
Unterschied räche sich für seine Verdrängung „durch seine prekäre
Wiederkehr: als das Esoterische“, die verdrängte Geschichte „durch
ihre prekäre Wiederkehr: als das Mythische“68. Die Wiederkehr der
von den ästhetischen Avantgarden negierten Geschichte läßt sich an
dieser Epochenschwelle kaum eindrucksvoller belegen als durch den
Theoretiker und Propheten des Generalstreiks, Georges Sorel. Er hat
schon 1908 in seinen.Äe/Zexzows sur la violence die Illusionen des Fort-
schritts durchschaut, denen Apollinaire und Marinetti verfallen soll-
ten, und die Katastrophe, die sie nicht kommen sahen, antizipiert, sie
66 „Gesamtkunstwerk Wien“, in: Der Hang zum Gesamtkunstwerk, wie Anm. 44, S. 84.
67 Ebd.
68 Wie Anm. 44, S. 48.
 
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